Eigentlich zum ersten Mal hatte ich den Gedanken des unabwendbaren Todes mit mir selbst in Verbindung gebracht. Du entrinnst, stelle dich, wie du willst, so sprach eine Stimme in mir, dem Ende deines hochmögenden Großvaters nicht: er reichte einer Zarin den Mundbecher, aber das rettete ihn keineswegs vor dem Schicksal, das eben das allgemeine ist. Schiebe es noch so lange hinaus, suche es noch so sehr zu vergessen, lenke dich tausendfältig in die Fülle und den Reichtum des Lebens ab: eines Tages wird es auch dir unabwendbare Gegenwart. Du kannst es keinem anderen zuschieben, du musst dabeisein, du ganz persönlich. Und wenn du auch hundert Jahre alt würdest, geht es am Ende nicht ohne dich. Du wirst atmen, leben und leben wollen wie jetzt, dann wird es heißen: leg weg, was du in Händen hast, ein Stück Brot, eine Handvoll Zuckerschnüre, oder was es auch immer sei, es ist aus, du musst fort – musst sterben. Und das Sterben wie das Leben wirst du hinnehmen müssen als Gegenwart.
An meinem letzten Geburtstag, den ich vor wenigen Tagen gefeiert hatte, standen acht brennende Jahreslichter um den obligaten Streuselkuchen herum. Alles in diesen Blättern Erzählte lag hinter mir, ja unendlich viel mehr, was einigermaßen erschöpfend mitzuteilen Menschenkraft übersteigen würde. Durch fünf von diesen acht Jahren war ich gleichsam mit fliegendem Haar hindurchgestürmt, hatte gelacht, geweint, gerast, gelitten, gekämpft, und was noch sonst. Aber über alles siegte der innere, fließende Strom von Lebenslust. Unbequemes und Unangenehmes wurde mit einer Bewegung ähnlich der eines Fohlens, wenn es, die Mähne um sich werfend, eigensinnig davongaloppiert, abgeschüttelt.
Nun aber, seit Großvaters Tode, gelang dies mitunter so ganz nicht mehr.
*
Wenn sich meine Mutter im Sommer nach den Strapazen in der glühenden und lärmenden Hotelküche, nachdem einige hundert Menschen abgefüttert waren, todmüde in ihr Schlafzimmer geflüchtet hatte und, schwer aufseufzend und halblaut gegen alles und alles protestierend, auf dem Bett lag, ließ ich mir von ihr ängstlich bestätigen, dass sie doch nicht etwa sterben werde. Eine solche Befürchtung lag gar nicht so fern. »Gerhart, ich bin so lebensmüde!« war ja immer wieder ihr Stoßseufzer. Allerlei, wie ich fühlte, nagte an ihr. Es entdeckte sich nicht nur in den mancherlei Klagen, besonders im Sommer über Hitze, Arbeitsüberhäufung, Küchenärger, Hotelbetrieb.
In Wahrheit stand eine unsichtbare Mauer zwischen dem Gasthof zur Preußischen Krone und dem benachbarten Dachrödenshof, ihrem Elternhaus. Die Heirat mit meinem Vater war dort schließlich verziehen, aber niemals gebilligt worden. Da meine Mutter nun keineswegs in dem erwarteten Sinne glücklich geworden war, ging ein Zwiespalt durch ihre Seele.
Ich ahnte das alles in manchem drückenden Augenblick, wenn ich in Mutters Nähe weilte, aber dann tat ich eben wieder dem Fohlen gleich und galoppierte davon, ins Freie.
Die wirtschaftlichste unter den Töchtern des Brunneninspektors war meine Mutter. Heut weiß ich, dass sie auch die klügste gewesen ist. Rein äußerlich wäre vielleicht eine größere Harmonie erzielt worden, wenn die geniale und sehnige Tante Julie mit ihren gesellschaftlichen Talenten in den Gasthof, meine Mutter in das Dominium Lohnig eingeheiratet hätte. Auf einem Gutshof, sagte sie immer, sei ihr wahres Wirkungsfeld. Auch ist es ein Gutsbesitzer in Quolsdorf gewesen, dem sie um meines Vaters willen einen Korb gegeben hat.
Nicht beim Tode des Brunneninspektors, aber bei Verteilung der Erbmasse brachen alle verharschten Wunden in den Seelen meiner Eltern wiederum auf.
*
Mich mit den Angelegenheiten der Erwachsenen ernstlich zu beschäftigen, bestand bisher keine Notwendigkeit. Es war selbstverständlich, dass meine Eltern, menschliche Götter, in jeder Beziehung für mich sorgten. Zweifel an der gesicherten Macht und Kraft, aus der sie es taten und tun mussten, bestanden nicht. Auf dem Wege von Lohnig nach Striegau, in der Landkutsche, ging mir zum ersten Mal meine Verbundenheit mit einer großen Volksgemeinschaft auf, von deren Wohl und Wehe mein eigenes nicht zu trennen war. Und mehr als das: nämlich so weit verbreitet, so zahlreich, so stark und wehrhaft diese Volksgemeinschaft war, sie war verletzlich, sie konnte in Frage gestellt, ja zerstört werden.
Die gewohnheitsmäßigen, fortlaufenden Knabensorgen störten mich nicht, sie gehörten zu meiner Persönlichkeit. Nun aber wurde ich in die allgemeine Sorge um Volk und Vaterland hineingezogen, und etwas mir bisher ganz Fernes und Fremdes belastete mich.
Diese befremdlichen Düsternisse im Raume meines Gemüts wurden bald vom Fanfarengeschmetter der Siege aufgelöst. Feuerwerke, Raketen, Leuchtkugeln, Sonnen stiegen immerwährend, sogar am hellichten Tage, empor, als gälte es, der natürlichen Sonne am Himmel den Rang abzulaufen.
Jetzt aber, nach dem Tode des Großvaters, erwies sich ein anderer Boden, dessen unantastbare Festigkeit ich als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, als nicht ganz so fest und nicht ganz so tragfähig. Und ich sah mich abermals gezwungen, fremde Angelegenheiten, solche erwachsener Menschen, meiner eigenen Eltern sogar, in gewissem Betracht zu den meinen zu machen.
Vom Begräbnis des Großvaters weiß ich nichts, verständigermaßen wurde ich ganz und gar davon ferngehalten. Auch weinte sich meine Mutter nicht vor uns Kindern aus. Dann kam die Eröffnung des Testaments, von der wir erfuhren und über die wir Geschwister uns allerlei spannende Dinge zutuschelten. Wir fühlten bald, dass zugleich zwischen Vater und Mutter eine Spannung eingetreten war, die sich bei meinem Vater als Zurückhaltung, ja als Kälte äußerte. Er verabscheute Heuchelei. Die Trauer aber um den alten, steifen, unversöhnlichen Schwiegervater kann bei ihm nicht sehr tief gewesen sein.
*
Der Eröffnung des Testaments beizuwohnen, hatte mein Vater, wie ich im Nebenzimmer hören konnte, erregt und beinahe mit Verachtung abgelehnt, worauf meine Mutter weinend allerlei, was ich nicht verstehen konnte, antwortete. Es fielen Ausdrücke wie Leichenfledderei, die der Krieg populär gemacht hatte. Er treibe sie nicht, so sagte mein Vater, er entwürdige sich nicht durch Leichenfledderei. Kurz, meine Mutter musste allein gehen, da sie doch ihre Interessen nicht unvertreten lassen konnte.
Ich verhielt mich mäuschenstill in der Vier, als die Mutter am späten Nachmittag aus dem Dachrödenshof zurückkehrte und in der Drei auf den Vater traf. Sie hatte ihm, wie sie uns später einmal erzählte, eine Schürze voll Gold im Werte von tausend Talern nicht ohne einige Freude und einigen Stolz mitgebracht. Ich hörte zunächst, wie mein Vater äußerst erregt die Worte »Behaltet euch euren Mammon!« der Mutter entgegenschleuderte, und dann das Fallen, Klingen und Rollen von Geld.
Читать дальше