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Die schöne Episode ging in ein wundervolles, aber ganz andersartiges, lautes Finale aus. Es wurde wiederum auf Grund der Liebhaberei meines Vaters durch eine Überraschung eingeleitet. Für mich eine Überrumpelung, und zwar eine, wie ich sie ähnlich wirkungsvoll in meinem Dasein nicht wieder erlebt habe.
Die neuen, mächtigen Eindrücke aus dieser landschaftlich die Salzbrunner Gegend weit überbietenden Natur, verbunden bei immer köstlichem Wetter mit einem stillen, mich liebevoll umhegenden heiteren Sein, hatten mich Salzbrunn beinahe vergessen lassen. Wäre es damals wirklich versunken, es hätte nicht können versunkener sein. Ich weiß nicht, wann ich die Mutter, meine Geschwister, mein Wildlingsleben, den Gasthof zur Preußischen Krone und was noch sonst – und ob ich das alles überhaupt je vermisst hätte. In einem Sinne war es versunken, in einem anderen ferngerückt; denn Eisenbahnfahrt über eine lange Kette von Stationen, endlich die Fahrt auf der Journalière hatten eine nach meinen Begriffen ungeheure Entfernung zwischen mich und Salzbrunn gelegt.
Wir hatten gebadet, wir hatten gefrühstückt, es war ein Tag wie alle Tage. Mein Vater schlug eine Wanderung nach Fischbach oder Buchwald vor. Ich konnte auch andere Wünsche äußern, die mit der gleichen Achtung wie von einem Erwachsenen entgegengenommen und diskutiert wurden. Es blieb bei Buchwald, weil uns die Seen und berühmten Parkanlagen anzogen. Wenigstens machte alles auf mich den Eindruck, als ob wir uns aus keinem anderen Grund für dieses Ziel entschieden hätten.
Unweit Buchwald saß eine alte Tiroler Bäuerin, Emigrantin aus Zillertal, vor ihrem nach Tiroler Muster sauber erbauten Haus, und mein Vater fragte sie nach dem Wege. In Tiroler Mundart gab sie Bescheid, wobei sie meinen Vater mit du anredete, was für mich bei der Gegensätzlichkeit beider Gestalten eine höchst befremdliche Überraschung war. Der Umstand wurde dann zwischen Vater und mir sehr belacht, und so waren wir, von der Alten richtig gewiesen, in eine Allee hinter dem Buchwalder Schloss gelangt, wo mein Vater hinwollte. Einige Schritte erst hatten wir in dieser Allee zurückgelegt, als in ihrer sich mehr und mehr verjüngenden Tiefe ein Punkt erschien, in dem meine scharfen Augen einen Wagen mit zwei Pferden davor erkannten. Mein Vater, der ja kurzsichtig war, wollte wissen, wie der Wagen aussähe, was ich ihm aber genau nicht sagen konnte, da selbst für meine Augen die Entfernung zu groß war. Jedenfalls kam der Wagen auf uns zu, und man hatte ja dann Gelegenheit, sich über die Art des Gefährtes klarzuwerden.
Nach zwei Minuten konnte ich meinem Vater versichern, dass es sich um eine recht elegante Equipage handelte, einen der damals neuen Landauer. 1Der Kutscher auf dem Bock trug Livree, und jemand, ein Diener höchstwahrscheinlich, saß in steifer Haltung neben ihm. Es lag nah, an den Grafen X., den Besitzer von Buchwald, zu denken, da die schöne, mit alten Bäumen umsäumte herrschaftliche Zufahrt eine private war.
Kaum hatte ich dies bei mir selbst gedacht, als mein Vater mit einer gewissen Hast ebenderselben Meinung Ausdruck gab. »Gerhart«, hieß es, »raff dich zusammen, geh grade und grüße, wenn der Wagen vorbeifährt, es ist Graf X., und wir sind hier auf seinem Grund und Boden.« Das sah ich ein. Und als nun mein Vater noch das bei ihm übliche kurze Kommando »Brust raus, Bauch rein!« ertönen ließ, schritt ich, als ob ich einen Ladestock verschluckt hätte, neben ihm.
Inzwischen, als die Equipage mit zwei lebhaften Pferden näher und näher kam, wurde mir etwas an diesem Gefährt auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte, wundersam. Das Befremden lag nun aber wieder darin, dass mir etwas daran bekannt erscheinen wollte. In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass ich im nächsten den glücklichsten meiner Jugend erleben sollte: schon aber fing er sich im Dunkeln zu regen, zu grauen, zu dämmern und in einer plötzlichen Bestürzung übergrell blendend zu leuchten an. Und so, als ob man mit einem Blick mitten in die Sonne erblindete und aus dieser Blindheit trete ein gottgesandter Engel hervor, so sah ich plötzlich den Diener neben dem Kutscher in meinen ältesten Bruder Georg verwandelt, erkannte aber unseren eigenen Kutscher Friedrich immer noch nicht, unsere Pferde und unsern Wagen ebensowenig, bis ich, das Innere des offenen Landauers überblickend, immer noch meinen Augen nicht traute, als ich im Fond meine Mutter, meine Schwester Johanna und meinen Bruder Carl sitzen sah.
Es hätte damals wirklich nicht viel gefehlt, und ich wäre vor Freude närrisch geworden. Niemals hatte mich, wie erwähnt, Heimweh geplagt. Weder nach Mutter noch Geschwistern hatte ich Sehnsucht empfunden. Aber nun, wie ich mich selbst noch ganz genau zu erinnern vermag und wie Erzählungen in der Familie wieder und wieder bestätigten, sprang ich immer nur mit beiden Beinen in die Luft und war eine Viertelstunde lang nicht zu beruhigen.
Der psychische Prozess dieser Überraschung ist mit all seinem Drum und Dran in mein Inneres geprägt und noch heute wieder hervorzurufen. Er hat mir, wo es Überraschungen darzustellen galt, immer die gleichen guten Dienste geleistet.
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Vielleicht waren die nun folgenden vier oder fünf Tage die am meisten harmonischen und die glücklichsten, die der Familie je beschieden gewesen sind.
Wir machten Fahrten statt Fußwanderungen, da wir ja nun unsere Equipage hatten, unter anderm auch nach der Josephinenhütte in Schreiberhau, wo mehrere Glasöfen in Betrieb waren und man die Glasbläser beobachten konnte. Wie wir Knaben an Strohhalmen unsere Seifenblasen, so bliesen sie durch metallene Röhren die in Weißglut brennenden Glasmassen auf und gestalteten sie zu allerlei Formen. Wenn ich von diesem Eindruck absehe, der sehr tief und nachhaltig war, blieb mir aus diesen Tagen wenig zurück. Gewiss, sie waren von ungetrübter Heiterkeit, außer dass ich allmählich begriff, die beste Zeit war trotzdem vorüber. Das innige Einvernehmen mit meinem Vater hatte sich in ein allgemeines verflacht, bei dem ich zwar ausgezeichnet und verwöhnt wurde, das mir aber den Vater und Freund eben doch entfremdete.
Bei alledem hatte ich meinen unterbrochenen dionysischen Rausch wieder aufgenommen, war wiederum Chingachgook, siegte in allen Wettrennen mit dem Steppenroß, war wiederum Wildtöter, Affe, Singvogel und führte morgens beim ersten Frühstück, wo mitunter die ganze Familie ein Geist des Übermuts ergriff, Solotänze aus, eine Kunst, von der nur meine Schwester gewusst hatte. Ich hatte mir eine Art Nijinski-Tanz selbst ausgedacht, oder besser: er war als instinktives Bedürfnis aus mir hervorgetreten. Dabei bewegte ich mich in rasanten Fußwirbeln, Sprüngen und dergleichen, wie ich glaube, mit ungewöhnlicher Vielfalt und Leichtigkeit.
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