In diesem Besuch wirkten sich die Folgen der späten Heirat meines Großvaters Hauptmann aus, und mit ihm begann der stille Verzweiflungskampf meines Vaters, der den Verlust unsres Gasthofs und unseres Vermögens schließlich und endlich nicht abwenden konnte.
Gustav Hauptmann blieb im Haus, nie aber hat mein Vater eine seiner Halbschwestern von jener Zeit an wiedergesehen. Als die verwitwete Toni mit ihrem Sohn fast dreißig Jahre darauf vor der Tür seiner kleinen Villa in Warmbrunn stand, wurde sie nicht hereingelassen.
*
Beim Tode meines Großvaters müssen meinem Vater die geschäftlichen Schwierigkeiten beinahe über den Kopf gewachsen sein. Es war ihm anscheinend noch nicht gelungen, die Hypotheken aufzutreiben, durch die er die Auszahlung seiner Halbgeschwister ermöglichen konnte. Sie alle drei, das heißt ihre Männer, bestanden auf ihrem Schein. Wir ahnten nicht, und auch meine Mutter ahnte wohl nicht, wie es um uns stand, als sie sich darüber aufregte, dass Vater ihr nicht genügend Vertrauen schenke. Wenn er die zum Ausgleich und zur Rettung nötigen Hypotheken nicht auftreiben konnte, so lagen wir mitten im Winter auf der Straße, und es brach ein Elend ohne Maß über uns herein. Er hatte recht, wenn er das verschwieg.
Der Brunneninspektor hatte bei der Verteilung seines nicht kleinen Barvermögens fast ausschließlich seine zwei unverheirateten Töchter, Elisabeth und Auguste, bedacht. Kein Wunder, dass der Gatte meiner Mutter Marie, dessen Schiff im Sturm auf Leben und Tod kämpfte, in einen Zustand geriet, in dem sich Erbitterung und Verzweiflung mischten, da ja eine gerechte Verteilung die Rettung seines Schiffes bewirkt hätte.
Nun, mein Vater rettete diesmal noch selbst sein Schiff. Und dass dies geschah und wir von da ab noch fast ein Jahrzehnt an Bord bleiben durften, war für die Entwicklung unsrer Familie von nicht zu überschätzender Wichtigkeit.
*
Was ich von allen diesen Verhältnissen mehr ahnungsweise als wirklich wissend aufnahm, veränderte die äußeren Formen meines Betragens und meines Lebens nicht. Die neuen Beschwerungen konnten der Leichtigkeit und dem Schwunge meiner Bewegungen nichts anhaben. Ich habe erzählt, wie ich trotz allem und allem auf dem Karren voll goldenen Laubs im Posthof meine Jungens kutschierte, und zwar in vollendet heiterem Übermut, trotzdem mir der Stachel, dass ich dem Tode nicht entgehen könne, im Gemüte saß. Auch das neue Erlebnis, konnte ich es gleich nie endgültig abschütteln, trat während langer Zeiten, von neuesten Eindrücken überdeckt, in das Unterbewusstsein zurück.
Die Hilfe, die mein Vater um Neujahr erhalten haben musste, brachte ihm also Beruhigung; unser Leben konnte in alter Weise fortgehen. Die nationalen Vorgänge aber waren so unwiderstehlich aufschwunghaft, dass sich ihr Geist allem, auch unserm Vater, mitteilte. Am 18. Januar unvergesslichen Angedenkens wurde im Schloss zu Versailles König Wilhelm von Preußen zum Kaiser gekrönt.
Bismarck und Moltke, Moltke und Bismarck waren in aller Munde. In der Schule sangen wir »Die Wacht am Rhein«, der alte Brendel selbst war festlich erregt. Die Hornhaut an den Kniebeln seiner Finger, die den Takt auf der Bank klopften, wurde immer dicker. Er holte sogar in jeder Gesangsstunde seine Schulmeistergeige hervor, was er früher nie getan hatte. Sozusagen mit Ächzen und Krächzen verjüngte er sich. Zwar noch immer fielen die Worte: »Ihr Bösewichter! Du Bösewicht!«, aber dann hörte man ihn auch wohl hinausseufzen: »Kinder, es ist eine große, gewaltige Zeit!« – »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall!« sangen wir auf der Straße. Und überhaupt schwelgten wir Jungens in nationaler Begeisterung. Einen Spielkameraden hatten wir schon zu Anfang des Krieges rücksichtslos als Franzosen verfolgt, weil er mit einer Stürmermütze erschienen war, die an die Kopfbedeckung der Rothosen erinnerte. Wir kannten ihn und die Eltern des Jungen genau, wussten, dass es ein ebenso guter Deutscher war wie wir anderen. Wir stießen ihn trotzdem einstimmig aus und verfolgten ihn, wo er auftauchte.
*
Die Tatkraft meines Vaters setzte nicht aus. Er war irgendwo mit Roon, dem Kriegsminister, in Verbindung gekommen. Der General hatte zu ihm gesagt: »Wenden Sie sich an mich, wenn Sie glauben, dass ich Ihnen einmal in irgendeiner Sache dienen könnte!« Das hatte mein Vater nun getan. Ober-Salzbrunn, hat er ihm geschrieben, ist ein hübscher und leistungsfähiger Badeort und besonders geeignet, Gefangene unterzubringen, Rekonvaleszenten oder Gesunde. Das Eintreffen eines Franzosentransportes wurde daraufhin vom Kriegsministerium meinem Vater für Februar angesagt.
Leider wurde nicht Wort gehalten. Mitten in Winter hob sich in den Logierhäusern ein Kehren, Waschen und Putzen an, das gleichsam die Zeit auf den Kopf stellte. Nachdem sich dies alles als überflüssig herausstellte und die Hoffnung auf Staatsvergütung und mancherlei sonstige Sensation zu Wasser geworden war, fiel der ganze Ort über meinen Vater her, als den, der das Unheil verursacht habe.
Trotz des Einspruchs meiner Mutter wurde im Hause wieder melioriert. Primitive Wasserspülungen wurden angelegt, ferner eine Luftheizung im Kleinen Saal. Im Orte wuchs der Mut und die Lust zur Geselligkeit, und mein Vater dachte daran, den Kleinen Saal auch im Winter für Kränzchen, Bälle, Hochzeiten der Eingesessenen auszunützen. Der die Luft erwärmende Ofen stand in der Kutscherstube Unterm Saal, und ich hatte immer schon als Knabe den Verdacht, dass die Luft, die ebenfalls von Unterm Saal durch den Schacht in die Höhe stieg, nicht die beste sein könne.
*
Um Ostern war wieder ein Familientag, der sich, wie alle Feste in jener Zeit, zu einer Art Siegesfeier gestaltete. Onkel und Tanten, die wieder im Blauen und Großen Saal durcheinanderwimmelten, musizierend, schwatzend, lachend und patriotische Reden haltend, während wiederum draußen die Stare pfiffen, waren berauscht ohne Wein: aber dann tat auch er noch das Seine.
Bismarck, Bismarck, Bismarck war das Losungswort. Am 21. März war in Berlin der erste deutsche Reichstag eröffnet worden, wobei Bismarck den Fürstentitel erhielt. Er war der Schmied, er hatte auf seinem Amboss Pinkepank die deutsche Einheit zusammengeschweißt. Er war der Heros, er hatte die Kaiserkrone geschmiedet und König Wilhelm in die schon ergrauten Locken gedrückt.
Der Wein meines Vaters machte die Zungen der Onkels freigebig. Sie schworen, er habe mit Otto von Bismarck eine überraschende, frappante Ähnlichkeit. Vielleicht war etwas Wahres dran, besonders wenn man den gleichen Schnurrbart berücksichtigte. Nach seiner ganzen Art interessierte sich mein Vater gar nicht für eine solche Ähnlichkeit. Man stieß aber trotzdem begeistert auf ihn, gleichsam den Bismarck von Salzbrunn, an und ließ ihn mehrere Male hochleben.
Читать дальше