An ein Vorleben dachte ich oft. Wie vielen, war mir gelegentlich so zumut, als ob ich alles mit und um den Gasthof zur Krone, mit und um meine Geschwister, Salzbrunn und seine Heilquellen schon einmal in der Tiefe der Zeiten Punkt für Punkt genau erlebt hätte. Das war nun der Gedanke einer ewigen Wiederkunft, den ich auch später naiverweise im Sinne des Lucretius Carus und seiner beschränkten Zahl von Atomen und ihren möglichen Kombinationen gedacht habe.
Der Zauberkasten machte mich vorübergehend zum Scharlatan. Ich übertrug die Versuche, Wunder mit dem Nimbus eines Zauberers vorzutäuschen, in mein Leben auf der Straße. Folgendes Stückchen, das ich vergessen hatte, wurde von Onkel Gustav Schubert auf Rittergut Lohnig beobachtet und mir später nicht ohne herzliches Vergnügen wiedererzählt.
Der Vorgang hatte sich, wie ich mich selbst entsinne, so abgespielt: Eine kleine Armee von Hofekindern wurde von Vetter Georg, der gewöhnlich mein Feldwebel war, und mir zu allerhand militärischen Aufzügen und sonstigen Übungen angeleitet und angeführt. Lebte man doch seit 1866 merklich zugleich in einer Nachkriegszeit und Vorkriegszeit. So vermehrte sich an jedem Geburtstag und jedem Weihnachten meine österreichisch-preußische Zinnsoldatenarmee. Schließlich war uns einmal das Militärische übergeworden, und wir dachten auf andere Unterhaltungen. Plötzlich aber, ich weiß nicht wie, behauptete ich, ich könne fliegen. Die Hofekinder sahen in uns beiden, dem Sohne des Gutsherrn und mir, Halbgötter. Sie zweifelten, aber waren glaubensbereit und forderten nun das Wunder zu sehen. Ich schämte mich innerlich meiner eitlen Aufschneiderei, ließ mich aber in ein Verfahren hineindrängen, von dem ich hoffte, es werde mir Gelegenheit geben, vor der Schlussprobe auszubrechen. Wenn das Wunder gelingen solle, behauptete ich, müsse vorher einer Reihe von mystischen Gebräuchen, und zwar aufs genaueste, entsprochen werden. Würden hierbei Fehler gemacht, so könne das Experiment nicht gelingen.
Gespannt, ein solches Wunder zu erleben, zeigte sich nun die Kinderschar von einer mich auf eine beunruhigende Weise ehrenden Willfährigkeit. Es wuchs meine Scham mit ihrem Glauben. Da es ein Zurück nicht gab, fing ich den traurigen Hokuspokus an.
Jedes Kind musste einen Stein gegen ein Scheunentor werfen, nach einiger Zeit musste es dreimal die Worte »Fliege, fliege, fliege!« ausrufen. War dies geschehen, ging es zur Pumpe, wo jeder der Teilnehmer ein Glas Wasser, ohne etwas davon zu verschütten, zu trinken hatte. Da ich einer großen Entlarvung entgegenging, zog ich diese angeblich unumgängliche Vorbereitung so lange wie möglich hin, ohne auf den Gedanken zu kommen, wegen eines angeblich gemachten Fehlers, den Versuch als gescheitert anzusagen. Endlich stieg ich fast verzweifelnd auf irgendeinen Vorbau der Gutsställe hinauf und sprang mit den wenig überzeugenden Worten »Ich fliege, ich fliege!« herunter.
Bei alledem hatte mich Onkel Schubert heimlich beobachtet.
Ein solcher Trieb, wenn er herrschend wird, macht den Hochstapler. Was ich tat, geschah zwar im Spiel, war aber schließlich auf einem übertriebenen Geltungsbedürfnis aufgebaut und dem Missbrauch der Unwissenheit meiner Gespielen: ich übte Betrug, wobei ich außerhalb der zwar ungeschriebenen, aber unverbrüchlichen kindlichen Spielregeln geriet, das Vertrauen brach und Verrat übte.
*
Nach dem Eselgeschenk an den kleinen Georg, noch zu Lebzeiten des Großvaters, verbrachte ich auf Einladung der Verwandten meine Sommerferienzeit in Lohnig, in der ich mich außer durch das peinlich missratene Flugexperiment durch allerlei andere Heldentaten auszeichnete.
Nicht aber das ist bei dieser jugendlichen Loslösung meiner Person vom bisherigen Schauplatz meines Lebens und Verpflanzung auf einen anderen die Hauptsache, sondern eine damit verbundene allgemeine Erfrischung, Erholung und Erneuerung.
Es war Juli, ich kam in die Erntezeit. Tagein, tagaus schwankten die hochgetürmten Erntewagen über den Hof, wurden auf die lehmgestampften Tennen gerückt und rechts und links in die Bansen abgeladen. Ununterbrochen rauschten und zischten die Garben. Hühner in ungezählten Mengen machten sich über die Weizenkörner, die ausfielen, her, und ebenso zahlreiche Flüge weißer Tauben wussten bei der Fülle des Segens allenthalben nicht, wo sie zuerst die Kröpfe füllen sollten.
Tante Julie und Onkel Gustav residierten im kleinen Herrenhaus, wo Vetter Georg und ich abends von der resoluten Gutsfrau im gemeinsamen Zimmer zu Bett gebracht und morgens wieder daraus erlöst wurden, denn zu schlafen in dieser allbeglückenden Sommerszeit war für uns keine leichte Aufgabe. Man bedenke, dass uns beiden Knaben nicht nur ein Esel, sondern auch ein Wagen mit schöngeschirrten Ziegenböcken zur Verfügung stand, – dass wir draußen auf den Stoppeln, wo die Leiterwagen mit vollen Garben beladen wurden, langsam fortrückend, auf den Pferden saßen und schließlich oben, in luftiger Höhe der Ladung, und auf ihrem bequemen Bett heimschwankten, – dass wir uns überall als Kinder des Herrenhauses wohlgelitten tummeln durften nach Herzenslust. Wir jagten uns auf den Weizenmassen der Scheunen, durch die endlosen Stallungen der Rinder und Pferde, zwischen der nach vielen Hunderten zählenden Bevölkerung der großen Schäferei herum. Wir wussten, dass unserem Kommando die ganze Jugend der Gesindehäuser jederzeit folgte, und wir genossen eine Verpflegung, die mich, verglich ich sie mit der sowohl sommerlichen als winterlichen des Elternhauses, märchenhaft anmuten musste: Sogleich nach dem Aufwachen Kaffee mit dicker Sahne, frische Milch, mit Klumpen von Butter und Honig belegtes Weizengebäck; mittags Braten, Gemüse, Kompotte in Mengen und frische Früchte, frische Salate mit saurer Sahne angemacht, Käse, Butter und selbstgebackenes Roggenbrot. Zu alledem wieder Milch, so viel man wollte. Butter, Honig, Sahne wiederum zum Nachmittagskaffee. Nun, ich darf mir den Abend ersparen, er schloss sich den übrigen Mahlzeiten würdig an.
Was war dagegen daheim selbst im Sommer die trockene Semmel und ein mühsam erkämpfter Morgenkaffee, mein mühsam erkämpftes, lieblos auf einem Teller zusammengekleckstes Mittagessen, zur Vesper mein Glas Wasser und etwas Himbeersaft, des Abends die dünnbestrichene Butterschnitte, eine Ernährungsweise, die ich, solange ich daheim war, als gottgewollt und selbstverständlich ohne alles Murren empfand.
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