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Dieser Lehmteich hat mir später einen empfindlichen Streich gespielt. Ich trieb mich wie stets auf der Straße in der Nähe des Gasthofs herum, die Saison war in vollem Gange. Da sprach mich ein Junge, ein geborener Hanswurst namens Geisler, an, der einen herrlichen Apfel in der Hand hatte. Der etwa zehn Jahre alte Armenhäusler langweilte sich. Er musste im Auftrag einen weiten Weg machen und verfiel darauf, mich zur Gesellschaft mitzulocken.
Der Geislerjunge hatte mich gern. Nur um mir eine Freude zu machen, biss er Maikäfern die Köpfe ab, zerkaute Glas, stach sich Nadeln durch die Finger und machte den wilden Mann. Jetzt kaufte er mir die Begleitung bis zu einem Haus in Richtung des Niederdorfs gegen einen ersten Biss in den Apfel ab. Als ich den Apfel bis zum Griebsch 3in mir hatte, waren wir unversehens bei der Gasanstalt und dem dahinterliegenden Lehmteich angelangt. Ich war mehr als eine halbe deutsche Meile weit von unserm Hause verschleppt worden.
Das nun aber, was im Augenblick hier am Teiche geschah, brachte den zurückgelegten Weg, den Gasthof zur Krone, die Geschwister, die Eltern, ja mich selbst völlig in Vergessenheit. Der Lehmteich wurde abgelassen, und zu Aberhunderten sprangen, schnalzten und panschten in dem immer seichter werdenden Wasser große Karpfen und kleine Forellen herum. Sie wurden von Männern in aufgestreiften Hosen aus dem gelben Schlamm herausgegriffen, am Ufer in Wannen und Fässern zusammengehäuft. Krebse wurden aus ihren Löchern hervorgezogen und zum allgemeinen Vergnügen und Entsetzen herumgereicht.
Alles dieses nahm mich gefangen. Die großen und kleinen Fische, die ich zum ersten Mal lebend und nahe sah, ihre glotzenden und verzweifelnden Augen, die Fanglust, die mich ergriff, und zugleich die bittere Erkenntnis des todesnahen Zustandes, in den alle diese Wesen, noch eben frei und glücklich, geraten waren: die packende Gegenwart von alledem betäubte mich. Ich hatte noch nicht Mittag gegessen, und als ich den Heimweg antrat, um, wie ich glaubte, dazu noch rechtzeitig vor der Mahlzeit einzutreffen, war es nahezu Abend geworden.
Meine Eltern müssen verzweifelt gewesen sein. Die Polizei war verständigt worden, nach allen Himmelsrichtungen hatte man Boten ausgeschickt, die dann unverrichteter Dinge zurückkamen. Es waren Zigeuner gesichtet worden, der Demuthteich wurde abgesucht, ich konnte zum Baden verführt und ertrunken sein.
Nun, die ungeheure Spannung und Angst hat sich bei meinem Vater, als er mich wieder an der Hand hatte, in die Form einer ziemlich harten Züchtigung aufgelöst.
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Es war natürlich, dass ich aus den Schulbänken, wo ich mit den zerlumpten Armenhäuslern Seite an Seite saß, einmal Krätze und Läuse heimbrachte. Ein anderes Übel, eine Hautflechte, die meinen ganzen Körper überzog, war ernsterer Art: Krankheit und Versuche zu ihrer Heilung wurden Martern für mich. Mein Vater hatte wie bei Carls Lungenentzündung den Chirurgus Richter und meinen Onkel, Doktor Straehler, herangezogen. Dieser, Badearzt und ein schöner, humorvoller Mann, verordnete Pinselung mit Petroleum. Hätte man es angezündet, der Schmerz hätte nicht können größer sein. Da sich auch diese Qual als nutzlos erwies, ging mein Vater mit mir zu einem Schäfer, der den Ruf eines Wundertäters besaß. Leider tat er diesmal kein Wunder, und da die Flechte nur immer gräulicher wucherte, trat mein Vater mit mir eine Reise nach der Provinzialhauptstadt an. Es scheint, dass die Konsultation eines Dermatologen dann das quälende Übel behob.
Die Fahrt nach Breslau geschah auf der kaum fertiggewordenen Strecke der Breslau-Freiburger Eisenbahn. Man erreichte den Zug in Freiburg oder Altwasser. Ich vermochte, nach Hause zurückgekehrt, in Schilderungen des Wunderbaren, das ich erlebt hatte, besonders in der Schule, mir nicht genug zu tun.
In Wahrheit nahm ich das heulende, zischende, donnernde Dampfroß, das mit dem Zuge schwerer Wagen blitzschnell dahinstürmte, als eine Gegebenheit. Schließlich war es kein größeres Wunder als irgendetwas von dem, was meinem Hineinschreiten in die Welt in endloser Fülle überall entgegenkam. Die Maschine pfiff, wenn wir uns einer Station annäherten, worauf der Schaffner, den jeder Wagen hatte, mit allen Kräften bis zum Kreischen der Schienen die Bremse zog. Während der Fahrt beschäftigte mich am meisten das Spiel der Telegrafendrähte, ihr Auf und Ab vor den Fenstern. Ich wusste nicht, wie ihre Bewegung zustande kam. Peinlich empfand ich die Ohnmacht unsrer Gefangenschaft und war befreit, als wir in Breslau aussteigen konnten. Mein Vater selbst aber war vielleicht die wesentliche Entdeckung, die ich bei dieser Bahnfahrt gemacht habe.
Er war auf einmal mein Kamerad und nicht mehr die steife Respektsperson. Das intime Verhältnis von gleich und gleich übertraf noch den Zustand, wie er bei Fuhrmann Krause herrschte. Auf jede meiner Bemerkungen ging er mit schalkhafter Miene ein, mitunter lachend, sodass ihm unter den scharfen, goldgerahmten Brillengläsern die Tränen herunterrollten. Was sich dann im ganzen außer der ärztlichen Konsultation begab, war für meinen zarten Organismus zu viel. So warf mich nachts mein rebellierendes Hirn aus dem Bett, und als mich mein Vater mitten im Zimmer fand und aufweckte, überfiel mich ein unaufhaltsamer, hemmungsloser Heimwehkrampf.
Der städtische Lärm, der Tabaksqualm einer alten Weinstube und schließlich der Besuch eines großen Theaters, den ich erzwang, waren schuld daran.
Ich sah in diesem für mich gewaltigen Hause »Orpheus in der Unterwelt«, wobei die Musik mir störend war. Ich konnte es kaum erwarten, bis wieder gesprochen wurde. Eine Rakete, die beim Hinabsteigen des Orpheus in die Unterwelt durch die Versenkung emporzischte und platzte, bedeutete für mich einen Höhepunkt.
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Bei Vaters Rückkehr in den häuslichen Pflichtenkreis und den der Familie trat sogleich die alte Entfremdung wieder ein. Mein Vater übte eine große Selbstdisziplin, mitunter aber übermannte ihn die der ganzen Familie eigene leichte Erregbarkeit. Irgendetwas mochte von uns Kindern verfehlt worden sein, sei es, dass wir ein längeres Ausbleiben durch eine Flunkerei entschuldigt oder etwas, das er wissen musste, verheimlicht hatten. Er begann dann etwa mit den Worten:
Wer lügt, der trügt;
wer trügt, der stiehlt;
wer stiehlt, der kommt an den Galgen.
Und nun wurde mit der Wucht drohender Worte die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer schrecklichen Zukunft im Gefängnis, im Zuchthaus und eines grausigen Endes unter dem Galgen oder auf dem Block ausgemalt. Man kann einen solchen Aufwand, wie mein Vater ihn zu unserem Schrecken manchmal trieb, unmöglich als proportional der Geringfügigkeit unserer Vergehen bezeichnen.
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