Das kühle Phlegma meines Bruders ist freilich später in sein Gegenteil umgeschlagen.
Ebenso wurde im Familiengedächtnis aufbewahrt, wie Carl dem Großvater ein Liedchen zum Geburtstag vortragen musste, das die Stelle enthielt:
Auf einer Flur, wo fetter Klee
und Gänseblümchen stand …
und wie er sie ungewollt veränderte:
auf einer Lur, wo Wetterklee
und Gänseliemchen stand …
und so zum Vergnügen des siebzigjährigen Geburtstagskindes tapfer gesungen hatte.
Um die Zeit aber nach Carls Wiedergenesung wurden, besonders von Johanna, Heldenstücke über Heldenstücke von ihm erzählt, die den Familienstolz aufs höchste steigerten. So sollte er eines unserer Kutschpferde, das er zur Schwemme geritten hatte und das mit ihm durchgegangen war, auf eine ebenso gewandte wie todesmutige Art und Weise zum Stehen gebracht haben. Von oben habe er seinen Hals umfasst und sich dann heruntergelassen, bis er vor der Brust des Pferdes hing, sodass es beim besten Willen nicht weiterkonnte. Carl selbst hat nie von der Sache erzählt, und man denkt nicht ohne unwillkürliche Heiterkeit einer Vorstellungswelt, die dergleichen für möglich hielt.
Immerhin hatte Carl eine Liebe zu Pferden, eine gewisse Gewandtheit mit ihnen umzugehen und auch Furchtlosigkeit.
Tauben und einen Taubenschlag hatte mein Bruder nach seiner Wiedergenesung gleichsam als Schmerzensgeld von meinem Vater geschenkt erhalten. Das Flugloch dieses Schlages, der über dem Kleinen Saal hergerichtet war, ging auf dessen grünbemoostes Dach hinaus, das wir Brüder auf einer Leiter ersteigen mussten. Der Sinn für Tauben und Taubenzucht mag sich durch einen gewissen Taubennarren, nicht den damaligen Bauern Rudolf in Salzbrunn, sondern dessen Vater, bei den Meinen festgesetzt haben. Man erzählte viele Geschichten von ihm.
Das Gut des Alten, damals in der Hand des Sohnes, hieß noch immer das Rudolfgut, aber es ruhte nicht mehr auf dem Grunde der alten Wohlhabenheit, denn der Inhaber war ein Trinker.
Eines Tages war der protzige Gutsbesitzer und Taubennarr in dem nahen Städtchen Freiburg erschienen, wohlgenährte Pferde vor die reichgepolsterte Kutsche gespannt, weil er eine Ausstellung von fünfzig und mehr seltenen Taubenarten besuchen wollte. Zu seinem größten Erstaunen wusste man dort nichts von einer dergleichen Veranstaltung. Da zog er eine gedruckte Anzeige aus der Tasche heraus, auf der in der Tat eine solche Ausstellung angekündigt und Fantastisches auf dem Gebiete der Taubenzucht versprochen wurde. Es sollten da alle bekannten und viele nie gesehene Rassen sein: nicht nur Trommel-, Schleier-, Hauben- oder Perückentauben, Pfauentauben, Tümmler, Möwchen und andere, sondern auch afrikanische und ostasiatische Arten, die man bisher noch nicht in Europa gesehen hatte.
Der Großbauer war einer Mystifikation 1zum Opfer gefallen, man hatte ihn aufsitzen lassen, ihn angeführt. Wochen hindurch war der Spaß von dem geselligen Kreise, mit dem er im Honoratiorenstübchen zusammenkam, vorbereitet worden, und man hatte den fanatischen Taubenfreund mit Schilderungen der zu erwartenden Wunder in immer größere Spannung versetzt und aufgeregt. Der gewagte, aber gelungene Scherz, der die Schwäche einer Tugend ausnützte, wurde von dem Ortsoriginal Doktor Richter angeführt. Man hatte sich dabei weidlich auf Kosten des armen Gefoppten amüsiert.
Auch der Taubennarr ist nicht immer nüchtern gewesen. Als ein Teil seiner Gutsgebäude und auch der mit den Taubenschlägen abbrannte, holte man ihn aus dem Wirtshause. Und als er vor dem brennenden Gehöft umhertaumelte und seine Tauben teils fliegend entkamen, teils mit brennenden Federn in die Flammen zurück oder tot auf die Erde schlugen, soll er nur immer empört gerufen haben: »Nu da saht ersch, nu da saht ersch, wo meine Tauba sein.«
Mein Vater, der für die Eigenart seiner Mitmenschen viel Interesse besaß, war Zeuge dieses Vorganges und erzählte ihn oft sowie auch die Fopperei mit der Taubenausstellung.
Nun überkam meinen Bruder Carl in gemilderter Form eine ähnliche Taubenleidenschaft. Er wünschte sich immer neue Sorten, die er auch nach und nach erhielt, schließlich besaß er auch in besonderen Käfigen Lachtauben. Er hatte die Besorgung des großen Taubenschlages unter sich, und ich habe ihm öfters dabei geholfen. Er trieb eine regelrechte Bewirtschaftung, deren materieller Ertrag ihm ausdrücklich gewährleistet wurde. Eier seltener Sorten wurden verkauft, Junge einfacher Rassen desgleichen, wo etwa Krankensuppen verlangt wurden. Wir stellten verwilderten Katzen nach, die sich mitunter an jungen Tieren vergriffen. Ein besonderes Kapitel der Taubenzucht waren die in andere Schläge Verirrten oder Verflogenen, die mein Bruder oft nur nach Kämpfen mit Bauern, Bauernknechten und Bauernweibern zurückerobern konnte, und Klagen über den Flurschaden, den Carls Tauben unter der Winter- und Frühjahrssaat wie gewöhnlich anrichteten. Es wurden sogar, weil sich die Flüge immer vergrößerten, Beschwerden bei der Ortsbehörde eingereicht.
Vielfach habe ich meinen Bruder begleitet, wenn es galt, verflogene Exemplare zurückzuholen, und bei dieser Gelegenheit die entferntesten Teile des Ortes kennengelernt, überhaupt meinen Vorstellungskreis bedeutend erweitert. Späher und Denunzianten, befreundete Jungens, die sich in Carls Dienst stellten, berichteten aller Augenblicke, wie sie beim Bauern Tschersich in Weißstein, beim Maurermeister Schmidt im Flammenden Stern, im Warschauer Hof, beim Gutsbesitzer Soundso im Niederdorf einen Mohrenkopf, einen Tümmler oder eine sonstige Seltenheit aus seinem Schlage unter den gewöhnlichen Tauben erkannt hätten. Dann brach Carl allein oder in meiner Gesellschaft auf, um der Sache mit Spannung nachzuspüren. Unser Beginnen, das wir mit Vorsicht und Umsicht, öfters mit Schleichen, Horchen und Auf-der-Lauer-Liegen durchführen mussten, hatte seinen besonderen Reiz. Naturhaftes an Instinkt wurde aufgerufen. Und schließlich war der Mut des offenen Hervortretens nötig, der Mitteilung unter den Augen des Bauern, dass ein fremdes Eigentum unter seine Tauben geraten sei. Bestritt er es, was fast immer geschah, so musste man in der meist immer heftiger werdenden Auseinandersetzung von Bitte zu Forderung aufsteigen.
Auch kleine Leute hielten Tauben, sogar die Bewohner vom Deutschen Haus, wie sich das Armenasyl von Salzbrunn bezeichnete, und dort konnten wir oft nur noch an den blutigen Federn das Schicksal einer Verflogenen feststellen.
Читать дальше