Und wirklich, diese Bezeichnung als Taugenichts war bei mir in Bezug auf die Schule gerechtfertigt. Ich konnte nicht leben ohne Licht, Luft und freie Natur und ohne das einsame, robinsonale Leben und Selbstbestimmungsrecht in alledem. Schularbeiten hasste ich.
Hie und da kam, wie gesagt, ein Tag des Erwachens, der Besinnlichkeit. Eines solchen erinnere ich mich.
Einmal war Alfred Linke, der Apothekerssohn, nach seiner wohlerzogenen Art mit mir spazierengegangen. Am Gartentor seines Elternhauses schlug er mir vor, auf ihn zu warten, er habe Klavierstunde. Mit Vergnügen sagte ich zu.
Hingestreckt lag ich am Gartenzaun, nichtstuerisch, meinen Grashalm kauend, als das Klavierspiel Alfreds, der ein virtuoses Talent besaß, und die korrigierende Stimme des Lehrers herausschallten. Da fiel mir die eigene Zeitvergeudung aufs Herz. Was tat ich, während er sich so eifrig fortbildete?
Ich rechne es unter die Träumereien, wenn ich mir wieder und wieder im Büro meines Vaters einige Bogen weißen Papiers erbat, um sie mit Bleistiftstrichen nach und nach zu bedecken und zu verderben. Ich hatte am Schluss der Bemühung jedes Mal ein Gefühl des Missmuts, ja der Enttäuschung zu überwinden, dem ähnlich, das ich als kleines Kind vor dem Berge welken Wiesenschaumkrauts gehabt, das ich in Menge ausgerupft hatte.
Das trübe Ende war zu einem seltsam gespannten, seltsam erregten Anfang die Kehrseite. Irgendwie wusste ich, dass man die verlockende weiße Fläche des Papiers mit sinnvollen und bedeutsamen Zeichen, sei es in Bild oder Buchstabe, bereichern kann. Und so hoffte und wünschte ich, sie zu bereichern. Den Gedanken, meine Umgebung, voran meine Eltern, in Staunen zu versetzen, kann ich gehabt haben, aber der eigentlich erste Beweggrund war er nicht, vielmehr wollte sich, wie ich glaube, ein noch dumpfer künstlerischer Trieb, der übergroße Ziele hatte, vorzeitig Genüge tun.
Ich muss einer kleinen Unbill gedenken, die ich von meinem Vater erfuhr, als ich wieder einmal in sein Schreibzimmer kam und um schöne weiße Papierbogen bettelte. Hingenommen und grübelnd über Geschäftsbüchern, gab er mir allerdings das Gewünschte, aber als ich es aus Versehen fallen ließ, mir dann auch der Bleistift entfiel, weil ich ängstlich und unruhig wurde, ward ich unsanft beim Kragen gepackt und mit einigen Klapsen hinausgeworfen.
*
Im großen ganzen habe ich den Schauplatz meines Lebens immer genauer in meinen Geist träumend und meditierend eingebaut, ihn unbewusst-bewusst, ich glaube in einem überraschend schnellen Tempo, erweitert. Die Himmelskuppel mit Gottvater wölbte sich über mir, der dreieinige Olymp hatte aber darin noch keine Stätte.
Wo ist nun dieser Olymp? Wie ist die religiöse Welt überhaupt in meine Träume und Meditationen eingedrungen?
Von den beiden Schwestern meiner Mutter, Tante Auguste und Tante Elisabeth im Dachrödenshof, ging ein weltverneinendes Wesen aus, etwas Kryptenhaftes von ihren Wohnräumen. War ich in ihre Nähe geraten und überhaupt in den Dachrödenshof, so riss es mich fast immer fluchtartig in die Sonne hinaus. Tholuck, Strachwitz, Thomas a Kempis und der Geist des Grafen von Zinzendorf, die hier herrschten, müssen eine Aura verbreitet haben, in der für mich nicht zu atmen war.
Im Gasthof zur Krone, insonderheit in der Familie, also bei uns, herrschte ein anderer Geist. Kein Wort von einer Verstoßung aus dem Paradies, von Erbsünde oder Sünde überhaupt, von drohendem Fegefeuer, nun gar einer Hölle, ging je aus dem Munde von Vater und Mutter hervor. Es waren nur wesentlich irdische Dinge, mit denen sie sich ernsthaft abgaben.
Dabei war in meinem Vater, in meiner Mutter eine tiefe Frömmigkeit. »Geh mit Gott!« oder »Mit Gottes Hilfe!« hieß es bei allerlei Unternehmungen, deren guten Ausgang man wünschte.
Es blieb meiner Schwester Johanna vorbehalten, ihre reine und gute Absicht vorausgesetzt, mich mit dem Gedanken an Sünde und Sündenschuld zunächst zu belasten. Sie wandte zum Beispiel den Ausdruck Lüge auf die meisten meiner heiteren Fantastereien an und behauptete dann, dass, wenn ich wirklich gelogen hätte, mich der Blitz beim nächsten Gewitter erschlagen würde. Dadurch hat sie mir eine lang quälende Gewitterfurcht ins Blut gebracht, denn daran, dass es eigenwillig strafende Götter geben konnte, zweifelte ich als dämonischer Schöpfer vieler Dämonen nicht.
Als ich die Fülle meiner Sünden in meinem Gewissen unendlich vermehrt hatte, tröstete mich Johanna wieder in meiner Gewissensnot, indem sie erklärte, dass Jesus Christus, Gottes Sohn, sofern man bereue, alle Sünden auf einmal vergebe, am Konfirmationstage im Genuss des Abendmahls.
Durch den unverantwortlichen, kindisch-mutwilligen Erziehungsversuch einer kindhaften Schwester wurde ich so in das kirchliche Wesen gleichsam beiläufig eingeführt.
Wenn man mich also gelegentlich in Grübeleien versunken sah, konnte es sein, dass ich grade mein Sündenregister nachprüfte.
Das Kind bedarf keines Heilandes, damit ihm Steine zu Brot werden. Ihm wird auch ohne die König Midas gewährte Begabung alles, was es anfasst, zu Gold. Aber mein leidenschaftliches Leben, meine seligen Energien, in denen sich ein ernster Werdeprozess doch stets halb bewusst machte, erlitten durch solche Eingriffe bedeutsame Trübungen. Fortan lebte ich gleichsam nur noch in einer sorgenvollen Glückseligkeit.
So, wie sie jedoch war, entsprach sie mir, und ich dachte nicht anders, als dass sie mir durch das Leben treu bleiben würde.
Habe ich darin recht gehabt?
Nach seiner schweren Krankheit dem Leben wiedergewonnen, genoss mein Bruder Carl eine lange Zeit die Hauptanteilnahme der Familie. Auch den Dachrödenshof – der Großvater lebte noch – hatte Carl längst durch sein gesellig-offenes, lernfreudig-begabtes Wesen für sich eingenommen. Er übertraf mich damals und immer hierin.
Ein Kindergeschichtchen, das sich mit ihm im Dachrödenshof zugetragen hatte, wurde wieder und wieder erzählt. Der Großvater Straehler, der würdige Brunneninspektor, hatte sich mit Schlafrock und langer Pfeife, um ihn zu amüsieren, vor dem Dreikäsehoch tanzend in ganzer Größe herumgedreht, was dieser mit kühlem Phlegma beobachtete. Schließlich hat er mit den Worten »Nee, ’s is doch ein verflischter Kerl!« seiner Bewunderung Ausdruck gegeben, womit er nach mundartlicher Gepflogenheit in gemilderter Form einen verfluchten Kerl bezeichnen wollte.
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