Auf den Gedanken, dass auch ich mich über einen kleinen Esel unbändig gefreut hätte, kam er nicht.
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»Gerse« nannte mich Tante Julie damals, wenn sie nach Salzbrunn kam. Es entsprach ihrer männlichen Art, wenn sie kein Diminutivum anwandte. Ihr »Gerse« klang gut und hatte durchaus meine Billigung. Ich fühlte, dass diese Frau, trotz einer grenzenlosen Mutterliebe, mich nie mit scheelen Augen sah und mich überall ebenso kräftig wie wohlwollend anfasste.
Mit Tante Auguste und Tante Elisabeth vom Dachrödenshof stand es, wie angedeutet, nicht so. Obgleich der kleine Georg Schubert auch nur ihr Neffe war, betonten sie doch ihre überwiegende Liebe zu ihm unverkennbar auf jede Weise. Meine Minderwertigkeit ihm gegenüber wurde mir eines Tages oder Abends recht deutlich zu Gemüte geführt.
Adolf, ein Sohn des Brunneninspektors, war fürstlich-plessischer Förster in Görbersdorf, und es wurde im Herbst eine Wagenfahrt dorthin unternommen, die mehrere Stunden dauerte. Nur Auguste und Elisabeth, der kleine Georg und ich waren von der Partie, ich höchstwahrscheinlich nur, weil der kleine Vetter und liebe Spielkamerad es gewünscht hatte. Beim Schlafengehen in den zugigen Dachkammern des Försterhauses waren nicht genug Decken da, sodass man Erkältungen befürchten konnte. Als ich aber einnicken wollte, sah ich plötzlich das mephistophelische Gesichtchen des buckligen Täntchens Auguste über mir, die mir, mit einigen zwar liebenswürdigen, aber hämisch klingenden entschuldigenden Worten, eine Decke, die mich wärmte, entzog und sie über das Kleinod, den Vetter Georg, sorgsam breitete.
1 Verschleierung, Verdunkelung <<<
Nicht nur durch das Taubensuchen, sondern auch durch die altüberkommenen Sitten mancher Jahrestage erweiterten sich mit meiner Kenntnis des Orts die der Bewohner, die der Menschen im Allgemeinen und meine Kenntnisse überhaupt. Vier Tage vor Ostern, am Gründonnerstag, war die ganze Jugend Ober-, Mittel- und Niedersalzbrunns in Bewegung. In kleinen oder größeren Scharen zogen sie, Bettelsäcke umgehängt, von Gehöft zu Gehöft, von Haus zu Haus um durch einen überaus kurzen Gesang Gaben von den Bewohnern herauszulocken. Das unisono gesungene Liedchen hieß im Dialekt: »Sein Se gebata, sein Se gebata im a grina Donstig.« Hochdeutsch: »Seien Sie gebeten um den Gründonnerstag.«
Noch allgemeiner war am sogenannten Sommersonntag das bettelnde Herumziehen. Die hierbei gesungenen Lieder waren etwas umfangreicher, und eines lautete:
Ich bin a kleener Pummer,
ich kumme zum Summer,
lußt mich ni zu lange stiehn,
ich muss a Häusla weiter giehn.
Noch an ein zweites erinnere ich mich:
Rote Rosen, rote Rosen
bliehn uf eeem Stengel.
Der Herr ist scheen, der Herr ist scheen,
de Frau is wie a Engel.
Der Herr, der hat ’ne huche Mitze,
er hat se voll Dukaten sitze,
er werd sich woll bedenken,
zum Summer uns was schenken.
Ich und auch Carl schlossen uns, von den Eltern ungehindert, meist jeder einer anderen Gruppe an und zogen stundenlang mit. Wir sangen vor dem Hause des Fräuleins von Randow, dem Flammenden Stern des Maurermeisters Schmidt, wir heimsten Geschenke von dem Gasthof Zur Sonne, dem Gasthof Zum Schwert, beim Demuthbauer, beim Rudolfbauer, beim Porzellanwarenhändler Gertitschke ein. Wir sangen aber nur einmal vor dem Hause der Enkes nebenan, dem Elisenhof, weil der Empfang kein guter war. Im ersten Stock ward ein Fenster geöffnet, und der Besitzer brüllte uns an, er werde seinen Hund auf uns hetzen, wenn wir nicht machten, dass wir fortkämen. Unsere zahmen Raubzüge gingen bis ins Niederdorf, wo wir fast überall, aber besonders in kleinen Leuten, willige Geber fanden. Zuweilen lud man uns ins Haus, um uns mit Butterbroten und Milch zu traktieren. Hauptsächlich aber waren es nach der Tradition Eier, die man uns gab und die wir in ziemlichen Mengen heimbrachten. Erst bei dieser Gelegenheit habe ich eigentlich mit leichtem Befremden das Ei und seinen Nahrungswert kennengelernt.
Um den Gehorsam deutlich zu machen, den wir ihm zu leisten gewohnt waren, erzählte mein Vater später oft und mit Heiterkeit, wie Carl mit einem Korb voll Eier, seiner Gründonnerstagsbeute, ins Zimmer getreten war und er ihn prompt und ohne zu überlegen zur Erde warf, als mein Vater ihn im Scherz mit den Worten »Schmeiß sie weg!« angeherrscht hatte.
Der Erlös unsrer Bettelei wurde von meiner Mutter in Eierspeisen nach unserm Wunsch verwandelt. Ich kann mich erinnern, dass Rührei mir aus irgendeinem Grund widerlich war, während mir Eierkuchen weniger widerstanden. Ich brachte wohl zum ersten Mal mit den fertigen Speisen ihr Rohmaterial in Zusammenhang.
Der Taubenkult konnte im wesentlichen als Spiel gelten, obgleich auch sachlicher Ernst damit verbunden war. Ich habe von der Liebe zu diesen Tieren eine Art Abneigung, Taubenfleisch zu genießen, zurückbehalten. Auch entrüstete ich mich mit Carl über das von den Weißsteiner reichen Bauern vielfach ausgeübte Vergnügen des Taubenschießens. Die Tierchen wurden in Käfigen auf den Schießplatz gebracht und zu Aberhunderten aus der Luft geschossen, wenn man sie freigelassen.
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Am Robinson und am Lederstrumpf, wie schon gesagt, habe ich lesen gelernt. Dagegen ist mein Ehrgeiz durch eine Geschichte, »Das Steppenroß«, besonders entfacht worden. Ich nahm dieses schnellste der Rosse in meine Träume auf, bestieg es selbst und besiegte damit alle Renner der Erde. Ob es damals in Deutschland Pferderennen gegeben hat, weiß ich nicht. Einst brachte jedoch mein Vater ein Spiel nach Hause, wo in Blei gegossene Reiter, ventre à terre, bemalte Jockeis auf Rennpferden, auf eine als Rennplatz graduierte Karte gestellt wurden. Nach der Entscheidung von Würfen aus dem Würfelbecher wurde mit ihnen vorgerückt. Ein nie gesehenes Schauspiel war mir dadurch nahegebracht und meine Vorstellungswelt bereichert.
Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander – unmöglich, ihre Fülle aufzuzählen. Man darf immer wieder voraussetzen, dass ich ein Wildling war, zwar heimlich von meinen Eltern gelenkt und geführt, aber von dem naturgegebenen Wunsch dauernd beseelt, nichts von der Ursprungswesenheit aufzugeben. Selbst scheinbar im Schlepptau von Carl, verfolgte ich immer noch eigenste Wege.
Die großen Rundflüge der Tauben im Blau, ihre blitzenden Schwenkungen machten mich unzufrieden mit meiner Erdgebundenheit. Ein Zauberkasten mit Zauberstab, den ich geschenkt erhalten hatte, Erzählungen von Hexen und Hexern, die das Geheimnis besaßen, wie man durch die Luft fliegen kann, brachten mich auf das Flugproblem und seine möglichen Lösungen. Besonders da ich immer wieder des Nachts im Traum mich in Gegenwart aller ohne alle Schwere und Schwierigkeit in die Luft erhob mit einem so überzeugenden Empfinden von vertikaler Beherrschung des Raums, dass ich an eine Vergangenheit, ein Vorleben denken musste, wo mir diese Bewegung ohne Schwere natürlich gewesen war.
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