Das sind nur ein paar Beispiele, wie wir Kindern in verschiedenen Altersstufen Selbstbestimmung zugestehen können. So wie bei Lady Ragnell ist auch unsere wahre Natur nicht immer leicht zu erkennen. Die Klarheit, die es uns ermöglicht, den Schleier der äußeren Erscheinungen zu durchschauen und zum Besten unserer Kinder zu handeln, entwickeln wir, indem wir das Gewahrsein für jeden Augenblick schulen. Selbstbestimmung kann weder uns selbst noch einem anderen allein durch eine einzelne vertrauensvolle Handlung gewährt werden, so wichtig solche Handlungen und Augenblicke auch sein mögen. Selbstbestimmung entsteht vielmehr dadurch, dass wir versuchen, jedem Augenblick mit offenem Herzen und gesundem Unterscheidungsvermögen zu begegnen.
Kein Tag vergeht, an dem wir uns nicht auf irgendeine Weise auf die Probe gestellt fühlen, an dem wir nicht unsere Selbstbestimmung hinterfragen oder das Gefühl haben, dass sie nicht mit der Selbstbestimmung unserer Kinder zu vereinbaren ist. Oder, anders ausgedrückt: Die Aufgabe, die Eltern Tag für Tag erfüllen, kann manchmal sehr erschöpfend sein und ist immer harte Arbeit, so wie auch der Versuch, kontinuierliche Aufmerksamkeit zu entwickeln, harte Arbeit ist. Wie wir bereits gesehen haben, erfordert Elternschaft Disziplin; sie fordert ständig, dass wir uns an die Möglichkeit des Präsent-Seins erinnern; dass wir unsere Kinder als die sehen und akzeptieren, die sie sind, und uns, indem wir das tun, im Umgang mit ihnen von unserer besten Seite zeigen, zu ihrem und unserem eigenen Wohlergehen.
Ein Teil dieser Arbeit besteht darin, nie zu vergessen, dass wir unsere eigenen Probleme und die unserer Kinder nicht ausschließlich durch Denken lösen können. Wir verfügen über andere, ebenso wichtige geistige Ressourcen, und als Eltern müssen wir lernen, diese zu nutzen, denn nur dann können wir auch unseren Kindern helfen, sie zu entwickeln. Eine dieser Ressourcen ist die Empathie, die Kunst, sich einzufühlen und mitzufühlen. Sir Gawain empfand etwas für Lady Ragnell. Indem er auf sein Gefühl vertraute – auf das, was wir seine „Intuition“, sein „Herz“ nennen würden –, gelang es ihm, die äußere Erscheinung und den Entweder-oder-Schleier seines eigenen Denkens zu durchdringen. Erst als er sich von seiner Hoffnung auf ein bestimmtes Ergebnis löste und er sowohl sein Dilemma als auch Lady Ragnells Selbstbestimmung akzeptierte, wurde eine Lösung möglich und die zuvor scheinbar unmögliche Befreiung.
Wenn jeder Augenblick wirklich eine Gelegenheit ist, zu wachsen; eine Chance, dem eigenen Wesen näher zu kommen, eine Weggabelung, die zu einem der unendlich vielen möglichen nächsten Augenblicke führt, je nachdem, wie wir den jetzigen sehen und erleben – dann schafft die Selbstbestimmung, die einem Kind in einer bestimmten Situation angemessen ist, den Raum, in dem seine wahre Natur in Erscheinung treten, gesehen werden und still gewürdigt werden kann. Und dadurch können im heranwachsenden Kind Selbstachtung, Selbstvertrauen und Vertrauen in die eigene wahre Natur und in den eigenen Weg Wurzeln fassen und sich entwickeln.
Die Kraft der Empathie und des Annehmens ist ungeheuer stark und wirkt sowohl bei der Person, die sie empfängt, als auch bei derjenigen, die sie einem anderen Menschen entgegenbringt, zutiefst transformierend. Mehr als alles andere stehen die sorgsame Unterstützung der Selbstbestimmung eines Kindes und eine allgemein mitfühlende, empathische und verständnisvoll-akzeptierende Haltung im Zentrum der Bemühungen um den achtsamen Umgang mit Kindern.
Die folgende Geschichte veranschaulicht sehr eindrucksvoll, wie ein Vater seinem Sohn in einer schwierigen Situation das Geschenk der Selbstbestimmung machte.
„Papa wird darüber sehr wütend sein“, sagte meine Mutter. Es war im August des Jahres 1938 in einer Pension in den Catskill-Bergen. An einem heißen Freitagnachmittag war es uns – drei neunjährigen Jungs aus der Stadt – sehr langweilig. Wir hatten schon so ziemlich alles gemacht, was man in den Sommerferien auf dem Land machen kann: Frösche gefangen, Blaubeeren gepflückt und im eisigen Flusswasser gebibbert. An diesem unerträglich langweiligen Nachmittag wollten wir jetzt endlich ein bisschen Action. Um zu überlegen, was wir anstellen könnten, verkroch ich mich mit Artie und Eli zusammen in die Kühle des „Casinos“, eines kleinen Gebäudes, in dem die Gäste abends Bingo spielten und sich hin und wieder die Vorführung eines durchreisenden Zauberkünstlers anschauten.
Schließlich kam uns die zündende Idee: Das Casino war einfach zu neu. Die Holzbalken und die weiße Rigipsverschalung der Wände waren einfach zu perfekt. Wir wollten diesen Eindruck ein wenig abschwächen und in dem Raum für alle Zeiten ein paar anonyme Spuren hinterlassen. An die möglichen Konsequenzen dachten wir natürlich keinen Augenblick. Wir nahmen eine lange hölzerne Bank und rammten sie wie einen Rammbock in eine Wand. Ein wundervolles Loch blieb zurück – aber nur ein kleines. Also wiederholten wir das Ganze noch einmal und dann noch einmal … Anschließend betrachteten wir Helden außer Atem und schwitzend unser erstes wirklich ansehnliches Loch. Die Aktion hatte uns soviel Spaß gemacht, dass wir uns völlig von unserer Idee mitreißen ließen und weitermachten. Nach einer Weile war kaum noch ein Stück Wand unbeschädigt. Noch bevor die ersten Gewissensbisse einsetzten, tauchte plötzlich Mr. Biolos, der Besitzer, in der Eingangstür auf. Er war außer sich vor Wut. Wenn unsere Väter am Abend aus der Stadt kämen, würde er ihnen Bescheid sagen und dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde!
Dann informierte er zunächst einmal unsere Mütter. Meine Mutter war der Meinung, was ich getan hätte, sei so ungeheuerlich, dass sie es meinem Vater überlassen müsse, mich zu bestrafen. „Und Papa wird darüber sehr wütend sein!“ kündigte sie mir an.
Um sechs Uhr hatte sich Mr. Biolos auf dem Zufahrtsweg postiert und wartete grimmig auf das Eintreffen unserer Väter. Hinter ihm drängten sich die ebenfalls wütenden Gäste auf der Veranda vor ihrem Bingo-Palast – wie beim Fußballspiel auf den billigen Stehplätzen. Sie hatten gesehen, was aus ihrem „Casino“ geworden war, und wussten, dass sie diesen Anblick nun für den Rest des Sommers ertragen mussten. Auch sie forderten nachdrücklich Gerechtigkeit. Artie, Eli und ich hatten uns jeder einen unauffälligen Platz gesucht, vorsichtshalber nicht zu weit von unseren Müttern entfernt. Wir warteten.
Arties Vater traf als erster ein. Nachdem Mr. Biolos ihm die Neuigkeit mitgeteilt und ihm das verwüstete Casino gezeigt hatte, zog er bedächtig seinen Gürtel aus der Hose und drosch dann mit nicht zu übersehender Routine auf seinen schreienden Sohn ein – natürlich unter den sichtlich beifälligen Blicken der gehässigen Menge, zu der die ansonsten immer so freundlichen Gäste geworden waren. Als nächster traf Elis Vater ein. Nachdem auch er gehört und gesehen hatte, was sein Sohn zusammen mit uns beiden anderen angerichtet hatte, wurde er so wütend, dass er ihn mit einem Schlag gegen den Kopf zu Boden streckte. Eli lag weinend im Gras, doch sein Vater trat ihm weiter gegen die Beine, in den Hintern und in den Rücken. Als der Sohn aufzustehen versuchte, trat der Vater ihn erneut.
In der Menge wurde gemurmelt: „Daran hätten die Kinder vorher denken können. Unkraut vergeht nicht. Macht euch keine Sorgen. Ich wette, die machen so etwas nie wieder.“
Ich schaute mir all das an und fragte mich, was mein Vater wohl tun würde. Er hatte mich noch nie im Leben geschlagen. Ich wusste, dass andere Kinder von ihren Vätern geschlagen wurden, hatte gesehen, dass einige meiner Schulkameraden mit blauen Flecken zur Schule kamen, und manchmal hatte ich sogar abends aus einigen Häusern in unserer Straße Schreie gehört. Doch das waren eben immer diese anderen Kinder, andere Familien, und warum und wie sie an ihre blauen Flecken gekommen waren, war mir immer völlig unklar gewesen. Bis jetzt.
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