Der perfekte Vater bin ich deshalb nicht geworden. Auch ich verliere manchmal die Geduld, strahle nicht ständig Liebe und Verständnis aus und weiß nicht immer, wo es langgeht. Auch ich habe Schwächen und Fehler, bin manchmal genervt oder ungerecht. Es gab Zeiten, in denen wir dachten, wir müßten den Verein eigentlich umbennen in „Mit Kindern wachsen oder untergehen“ und mir ist endgültig klargeworden: Egal, wie gut vorbereitet wir sind – Kinder werden uns immer wieder an unsere eigenen Grenzen bringen!
Wir sind stark geprägt von unserer eigenen Erziehung und Kindheit, und vor allem unter Streß tendieren diese alten Muster dazu, unseren inneren Zustand und unser Handeln zu bestimmen. So kommt es, daß wir manchmal Dinge sagen oder tun, von denen wir uns vorgenommen hatten, sie mit unseren eigenen Kindern sicher niemals zu machen. Und gerade hier können die Praxis der Achtsamkeit und die Essentielle Gestalt-Arbeit, wie sie von Katharina Martin entwickelt wurde, eine unschätzbare Hilfe sein, diese alten Muster zu überwinden, alte Verletzungen zu heilen und so nicht nur eine wirklich menschliche Beziehung zu unseren Kindern zu entwickeln, sondern auch selbst wieder ganz zu werden und zu einem erfüllten Leben zu finden.
Für mich persönlich bedeutete dies, daß mein Interesse für neue Wege im Leben mit Kindern und für Wege der Entfaltung von uns Erwachsenen in einen neuen Gesamtzusammenhang zusammenflossen. Das Erscheinen des Buches Mit Kindern wachsen von Myla und Jon Kabat-Zinn und ihr Besuch in Deutschland 1998 waren ein weiterer wesentlicher Schritt in diesem Prozeß. Ihr Beitrag zu einem achtsamen und liebevollen Umgang mit Kindern ist von großem Wert, und auch die Begegnung mit diesen beiden Menschen war für uns, unser Leben und unsere Arbeit von weitreichender Bedeutung.
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis meiner eigenen Reise bis zu diesem Punkt. Es stellt vieles in Frage, was üblicherweise über Erziehung gedacht und geschrieben wird und weist mit Sicherheit keinen bequemen Weg. Es kann und will niemandem sagen, wie er oder sie mit Kindern umgehen sollte – aber es möchte Fragen aufwerfen und zum Nachdenken anregen. Meine größte Hoffnung ist, daß es einen Beitrag dazu leisten kann, Kindern auf wahrhaft menschliche Weise zu begegnen und mit ihnen gemeinsam zu wachsen.
Einige Worte zu den Reflexionen, inneren Übungen und Geschichten
In dieses Buch habe ich auch einige Reflexionen beziehungsweise innere Übungen aus der Gestalt-Arbeit aufgenommen. Sie stehen – wie die Geschichten – jeweils am Ende eines Kapitels. Sie dienen dazu, das jeweils Gelesene zu vertiefen und Ihren Blick auf Ihre eigene Erfahrung zu lenken. Dabei gibt es kein vorherbestimmtes Ziel. Es gibt nichts Bestimmtes zu erreichen, es werden keine Noten verteilt, und es geht auch nicht darum, etwas richtig zu machen. Die Übungen können ein äußerst hilfreicher Wegbegleiter sein, wenn Sie sich ihnen einfach mit Interesse und offenen Sinnen zuwenden und sich in keiner Weise unter Leistungsdruck setzen oder sich bewerten. Fühlen Sie sich aber bitte nicht verpflichtet, alle Übungen zu machen. Wählen Sie aus, was Sie anspricht, und lassen Sie weg, was Ihnen nicht zusagt. Wenn Sie unsicher werden, erinnern Sie sich daran, daß es in diesen Übungen nichts zu leisten oder zu erreichen gibt, sondern nur etwas zu entdecken.
Am meisten werden Sie von diesen Reflexionen und Übungen profitieren, wenn Sie sich immer mal wieder ein wenig Zeit nehmen, sich auf Ihre eigene Erfahrung oder auf Ihre Kinder zu besinnen. Mit der Zeit können sie so ein wertvolles Werkzeug werden, Ihren eigenen Weg im Leben mit Ihren Kindern zu finden.
Die Reflexionen dienen dem Zweck, einige spezielle Themen näher zu beleuchten. Sie sind für das Verständnis des Buches nicht unbedingt erforderlich und können so auch ausgelassen werden. Da diese Themen aber trotz ihrer Komplexität auch faszinierende Erkenntnisse ermöglichen können, sind sie für diejenigen Leserinnen oder Leser aufgenommen worden, die sich von dem jeweiligen Thema besonders angesprochen fühlen.
Mit den Geschichten wiederum möchte ich auf Aspekte des Lebens mit Kindern aufmerksam machen, die in dieser Form besonders anschaulich dargestellt werden können. Geschichten waren schon immer ein beliebter Weg, bestimmte Botschaften zu vermitteln. Sie sprechen auch unsere Gefühle an und können uns so ermutigen und inspirieren, Kinder und ihre Welt auf eine neue Weise wahrzunehmen.
Teil 1
Mit Kindern neue Wege gehen
Der Mythos der „richtigen“ Erziehungsmethode
Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie mir unbekannte Eltern unter unbekannten Bedingungen ein mir unbekanntes Kind erziehen können …
Dieses „Ich-weiß-nicht“ ist in der Wissenschaft der Ur-Nebel, aus dem neue Gedanken auftauchen. Für einen Verstand, der nicht an wissenschaftliches Denken gewöhnt ist, bedeutet ein „Ich-weiß-nicht“ eine quälende Leere.
Ich will lehren, das wunderbare, von Leben und faszinierenden Überraschungen erfüllte schöpferische „Ich-weißnicht“ der modernen Wissenschaft im Verhältnis zum Kinde zu verstehen und zu lieben.
Es geht mir darum, daß man begreift: Kein Buch und kein Arzt können das eigene wache Denken, die eigene sorgfältige Betrachtung ersetzen.
JANUSZ KORCZAK
Was das Leben mit Kindern anbelangt, so ist unsere heutige Zeit vor allem geprägt von Unsicherheit. Früher war alles einfacher. Kinder hatten sich anzupassen, zu gehorchen, zu funktionieren. Das Familienleben beruhte auf einer unumstößlichen Machtstruktur, an deren Spitze der Vater stand. Seine Autorität war unantastbar und wurde notfalls mit Gewalt durchgesetzt, ohne daß dies durch irgendwelche Gefühle von Reue oder Unangemessenheit in Frage gestellt worden wäre. „Wer sein Kind liebt, der schlägt es“, „Was Klein-Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ und ähnliche Sprüche waren Ausdruck dieser patriarchalischen Struktur, unter der nicht nur die Kinder, sondern auch die Frauen zu leiden hatten. Man könnte sagen, daß das Kind früher als die Schöpfung des Vaters angesehen wurde, und als Schöpfer konnte er über seine Schöpfung bestimmen. Er besaß das Recht, aus dem Kind zu machen, was er wollte, und ihm kam gar nicht in den Sinn, es als das zu respektieren, was es in seinem inneren Wesen wirklich war. Er gab die Richtung für sein Leben vor und konnte es entsprechend seinen Vorstellungen ausbilden und formen.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen wir uns für die echten Enwicklungsbedürfnisse von Kindern zu interessieren. In den zwanziger Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg entstanden verschiedene hoffnungsvolle Ansätze, die dann allerdings, mit Beginn des Krieges, zum größten Teil im Keim erstickt wurden. Die 68er Jahre waren geprägt von einer starken Auflehnung gegen diese festgefügten Machtstrukturen. In der Folge kam es zu mehr Gleichberechtigung für die Frauen, und auch in bezug auf Kinder und ihre Bedürfnisse hat sich in dieser Hinsicht einiges geändert. Die Antiautoritäre Erziehung oder auch die Antipädagogik waren eine Art Gegenbewegung zu dieser alten Machtstruktur, aber in der Praxis konnten sich diese Bewegungen nicht recht behaupten.
Wenn wir heute in eine Buchhandlung gehen, so finden wir eine ungeheure Fülle von Büchern und Elternratgebern, die die unterschiedlichsten Methoden, Rezepte oder Ratschläge anbieten, wie wir Kinder erziehen sollten. Die Anzahl der feilgebotenen Ansätze ist fast schon so groß wie auf dem Gebiet der Ernähungslehren. Diese Vielfalt ist zweifellos die Folge unserer Unsicherheit – unserer Angst, den Zustand des „Ich-weiß-Nicht“, wie Janusz Korczak es nannte, auszuhalten und uns Kindern wirklich zuzuwenden. Darüber, wie die Aufgabe des Elternseins sinnvoll bewältigt werden kann, gehen die Meinungen weit auseinander, und das verstärkt noch die tiefe Unsicherheit vieler Eltern, wie sie mit der Situation umgehen sollen, in die sie mehr oder weniger freiwillig geraten sind. Diese Unsicherheit wird bei vielen noch weiter verstärkt von dem Bild der glückstrahlenden und kompetenten Eltern, wie sie uns die Werbung oder manche Erziehungsratgeber vorgaukeln. Tatsächlich ist die Geburt eines Kindes ein radikaler Einschnitt im Leben der Eltern – meistens vor allem in dem der Mütter. Gleichzeitig werden die Ängste und Schwierigkeiten mit dieser neuen Situation sehr häufig nicht geäußert. Alle scheinen es ja leicht zu schaffen, alle scheinen glücklich zu sein. Wer möchte schon zugeben, daß er oder sie der einzige Versager zu sein scheint.
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