Nehmen die werdenden Väter am Prozeß der Schwangerschaft und der Geburt aktiv teil, bringt sie dies häufig mit Teilen von sich in Verbindung, von denen sie vorher vielleicht gar nicht geahnt hatten, daß sie in ihnen sind. Eine weiche Stelle in ihrem Inneren wird berührt, die eine tiefe Liebe, Feinfühligkeit und Fürsorge an den Tag bringt. Auch wenn diese plötzliche Sensibilität manchmal zu Unsicherheiten oder einer ungewohnten Schüchternheit führen kann, ist diese Zeit auch für viele Männer eine besondere Gelegenheit, mit tieferen Aspekten von sich selbst in Berührung zu kommen.
Schließlich ist das Kind da, und neben der Freude schleicht sich früher oder später auch die Frage in den Eltern ein, ob sie dieser Aufgabe wirklich gewachsen sind.
Alles mögliche muß geregelt und organisiert werden, und mit der Zeit kann es sein, daß wir den Kontakt zu unserer Freude und Liebe wieder verlieren. Streß, Müdigkeit, vielleicht sogar Depressionen können auftreten, und manchmal wird das Kind, das vorher Anlaß zu Freude und tiefem Glück war, langsam, aber sicher zu einer Last. Dies wiederum teilt sich den Kindern mit, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, und beeinflußt in starkem Maße ihr Selbstwertgefühl.
Die innere Freude über das neue Leben ist eine Quelle, aus der Eltern immer wieder schöpfen können. Gleichzeitig ist das Leuchten in den Augen der Mutter eine wirkliche innere Nahrung für das Kind. Es spürt und sieht, daß es willkommen ist. Auch hier können Sie sich wieder fragen: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die innere Gewißheit hätte, daß ich willkommen bin – daß ich eine Quelle der Freude bin für meine Eltern?
Reflexionen oder Besinnungsübungen wie die am Ende dieses Kapitels können eine wertvolle Hilfe sein, uns daran zu erinnern, daß diese innere Freude nicht von der Macht des Alltags überdeckt wird. Und das ist fast unvermeidlich, wenn wir nicht aktiv daran arbeiten, sie lebendig zu erhalten und immer wieder zu nähren. Als Jugendlicher ist mir durch einige Begebenheiten aufgefallen, daß manche Eltern erst dann wieder mit ihrer Liebe zu ihren Kindern in Kontakt kommen, wenn diese in Lebensgefahr schweben. So geriet ein Mädchen, dessen Eltern immer sehr auf ihre sportlichen Leistungen bedacht waren, nach einer kleineren Sportverletzung in Lebensgefahr, weil die Narkoseärzte eine Unverträglichkeit nicht beachtet hatten. Plötzlich spürten sie wieder, wie wichtig ihnen das Kind war, um dessen Leben sie bangten. Vorher lief das Mädchen lange mehr oder weniger nebenher. Sie wurde nicht wirklich gesehen, ihren wahren Gefühlen wurde kaum Beachtung geschenkt. Man machte sich Sorgen um ihre Leistungen, ermahnte oder ermutigte sie und wendete sich ihr auch sonst vor allem in der Hinsicht zu, wie gut oder schlecht sie den Anforderungen der Schule oder den anderen Erwartungen der Eltern genügte.
Wir müssen nicht auf solche Extremsituationen warten, damit wir wieder mit unserer Liebe zu unseren Kindern in Kontakt kommen. Wir können uns erinnern und unsere Kinder spüren lassen, daß sie willkommen sind. Denn es reicht nicht aus, daß wir unsere Kinder lieben – sie müssen diese Liebe auch spüren! Ich bin mir sicher, daß die allermeisten Eltern ihre Kinder lieben – nur fällt es vielen schwer, diese Liebe zu leben und in ihrer Beziehung zu ihren Kindern zu verwirklichen.
Geben Sie sich für Besinnungsübungen wie diese ein wenig Raum und sorgen Sie dafür, daß Sie möglichst ungestört sind. Lassen Sie sich zunächst einmal ein paar Minuten Zeit, um bei sich anzukommen. Wenn Sie sich noch mit Dingen aus Ihrem Alltag beschäftigen oder von ihnen bedrängt werden, stellen Sie diese wie in der Achtsamkeitsübung (siehe Seite 200) für eine Weile zurück.
Wenn Sie sich bereit fühlen zu beginnen, stellen Sie sich auf Ihr Kind oder eines Ihrer Kinder ein und versuchen Sie eine Situation vor Ihrem inneren Auge oder Ihrem inneren Gefühl auftauchen zu lassen, als Sie in Verbindung mit diesem Kind Freude erlebt haben. Erzwingen Sie nichts. Stellen Sie sich einfach darauf ein, daß Erinnerungen auftauchen können. Vielleicht hilft Ihnen das Bild einer Antenne, die empfangsbereit ist, aber nicht aktiv Ausschau hält. Wenn zunächst nichts auftaucht, ist das vollkommen in Ordnung. Machen Sie sich keinen Druck. Nehmen Sie einfach wahr, was von allein kommt, ohne es zu bewerten. Es kann eine Situation sein, wo Sie etwas gemeinsam mit dem Kind getan haben, was Ihnen beiden Freude bereitet hat – es kann aber auch eine Situation sein, in der Sie das Kind bei etwas beobachtet haben, was Sie gefreut hat.
Wenn ein solcher Moment auftaucht, lassen Sie sich Zeit, daß die Situation in Ihnen lebendig werden kann, geben Sie der Freude Raum und lassen sie sich in Ihrem ganzen Körper ausbreiten, ohne etwas zu forcieren.
Wenn Sie durch eine solche Besinnungsübung Zugang zu dieser Freude bekommen, nehmen Sie sich regelmäßig ein paar Minuten Zeit, in der Sie sonst nichts erledigen oder tun, und versuchen Sie sich an diese Freude zu erinnern. Wenn Ihr Kind noch klein ist und Sie vielleicht sogar noch stillen, nutzen Sie diese Zeit, um diese Freude in sich aufzuspüren, sie zuzulassen und ihr Raum zu geben.
Eine gute Gelegenheit, sich innerlich wieder mit einem Kind zu verbinden, ist, wenn es schläft. Es stellt nun keine Anforderungen mehr an uns, wir können unsere Anspannung loslassen und es einfach ansehen. Wenn wir in dieser Weise mit unserem schlafenden Kind Kontakt aufnehmen, fällt es uns vielleicht leichter, unsere Liebe zu erneuern und unsere innere Verbindung zu nähren.
Das Erleben von gemeinsamer Freude spielt auch in dem Ansatz von Emmi Pikler eine wesentliche Rolle. Beim Wickeln, Füttern, Baden – bei allem, was wir mit dem Kind tun, ist es möglich, Raum für gemeinsame Freude zu schaffen, was nicht nur für das Kind, sondern auch für uns ein ganz anderes Lebensgefühl mit sich bringt.
Auf dem Weg zu einer neuen Beziehungsqualität
Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das zweite, was er tut, und das dritte erst, was er redet.
ROMANO GUARDINI
Der Grad, in dem ich Beziehungen eingehen kann, die die Entfaltung anderer als eigenständige Menschen fördern, entspricht dem Maß der Entfaltung, die ich in mir selbst erreicht habe.
CARL ROGERS
Kinder entwickeln sich nicht so sehr durch das, was man ihnen sagt oder zu erklären versucht, sondern durch ihre konkreten Erlebnisse in der Umgebung, in die sie geboren wurden. Wie ist die Atmosphäre, die sie atmen – die sie umgibt? Sind die Erwachsenen vor allem geprägt von Unruhe, Ungeduld und Unachtsamkeit, oder strahlen sie überwiegend Ruhe, Mitgefühl und Einfühlsamkeit aus? Ist die Umgebung eher unberechenbar, und wird das Kind wie ein Objekt behandelt, als ob es nicht empfinden könnte, was mit ihm geschieht? Oder fühlt es sich willkommen geheißen und respektiert? Fühlt es sich angenommen und geliebt, ohne etwas dafür tun oder leisten zu müssen – nur weil es da ist? Ist es eine Freude für die Eltern und keine Last? Und vor allem: Sind seine Eltern wirklich für es da? Sind sie wirklich anwesend für ihr Kind, und fühlt es sich von ihnen gesehen und verstanden?
Die Art und Weise, wie wir sind – unsere eigene innere Wirklichkeit –, bildet den Nährboden, auf dem das Kind mehr oder weniger gut wachsen kann. Diese Tatsache kann gar nicht genug betont werden, denn nicht nur sind wir und unser Verhalten ein Modell für das spätere Leben des Kindes – unser innerer Zustand von Moment zu Moment und die Art und Weise, wie wir mit unserem Kind in Kontakt treten, ist auch von wesentlicher Bedeutung für seine harmonische Entfaltung – denn wir Erwachsenen sind der prägende und bedeutungsvollste Einfluß in der Umgebung des Kindes. Die Qualität unserer Beziehung und die Art und Weise, wie wir unsere Kinder sehen, ist der wesentlichste Faktor für ihre Entwicklung. Dies ist auch der Grund, warum die Entwicklung von Achtsamkeit und Gewahrsein so wertvoll und hilfreich ist. Denn wenn wir unsere Kinder wirklich so wahrnehmen möchten, wie sie sind, und nicht automatisch, gewohnheitsmäßig und unbewußt auf sie reagieren und so den Kontakt zu ihnen und ihrer inneren Wirklichkeit verlieren wollen, ist es unerläßlich, unsere Aufmerksamkeit auch nach innen, auf uns selbst und unsere eigene innere Wirklichkeit zu richten.
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