Der Zauber war unmittelbar gebrochen und ihre Wut verflogen. Natürlich wies sie ihren Sohn dann trotzdem noch zurecht, aber es geschah in einer vollkommen anderen Weise, getragen von einem inneren Lachen und ohne die Anwendung von Macht oder Gewalt.
Vor allem unter Streß verlieren wir leicht die Kontrolle über uns, und wir tun oder sagen Dinge, die wir später manchmal gar nicht mehr nachvollziehen können. Dies ist in gewisser Weise eine natürliche Reaktion, die in früheren Zeiten für unser Überleben unerläßlich war. Wenn wir in Gefahr gerieten, mußte unser Organismus möglichst schnell zu Angriff oder Flucht aktiviert werden. Dazu werden bei Gefahr besondere Streßhormone wie Adrenalin ausgeschüttet, die dafür sorgen, daß wir möglichst schnell und automatisch reagieren. Die Pupillen weiten sich, unser Blick verengt sich, unser Denken ist stark eingeschränkt, Puls sowie Atmung beschleunigen sich, und unser gesamter Körper wird so blitzartig in Kampf- beziehungsweise Fluchtbereitschaft gebracht.
Diese automatische Streßreaktion ist in unserer heutigen Zeit und vor allem im Leben mit Kindern natürlich wenig hilfreich. Aber sie ist es, die uns manchmal in einer Weise reagieren läßt, die uns vielleicht über uns selbst erschrecken läßt. Der erste Schritt, aus diesem Reaktionsmuster auszusteigen, besteht darin, daß wir erkennen, was sich gerade abspielt. Nur wenn uns mitten in einem solchen Anfall bewußt wird, daß wir beginnen auszurasten, können wir uns innerlich „Stopp!“ sagen. Vielleicht merken wir dann, wie sich unsere Fäuste ballen, das Blut in den Kopf steigt und sich alles in uns darauf ausrichtet, das „Objekt“ unseres Stresses anzugreifen.
In diesem Zustand sind wir nicht zu klarem Denken in der Lage, und so mag es sehr sinnvoll sein, vielleicht erst einmal ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, ein paar Schritte auf und ab zu gehen oder sogar den Raum zu verlassen, bis wir uns wieder so weit beruhigt haben, daß wir wieder „wir selbst“ sind und die Situation auch wieder aus den Augen unseres Kindes sehen können.
Sollte uns doch der Geduldsfaden reißen, ist es sehr wichtig, uns hinterher zu entschuldigen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir die Umgebung oder unseren Tagesablauf in einer Weise organisieren können, daß der Streß nicht dazu führt, daß wir unsere Kinder als Last oder gar als bedrohlich ansehen.
Myla und Jon Kabat-Zinn sprechen gern davon, daß es manchmal scheint, als wären wir, oder auch unsere Kinder, in einer Art Zauberbann gefangen. Wir können zu einer bösen Hexe oder einem bedrohlichen Riesen werden, wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen. Der erste Schritt, uns aus einem solchen bösen Zauber zu befreien, besteht darin, erst einmal innezuhalten und nicht automatisch zu reagieren, wie es uns dieser Zustand eingibt. Das heißt nicht, daß wir unsere Gefühle unterdrücken sollen. Wir geben ihnen innerlich Raum, aber wir können lernen, uns nicht einfach mitreißen zu lassen. So wird es uns mit der Zeit möglich, eine geeignetere Antwort auf eine Situation zu finden.
Schön, daß es dich gibt
Von einem Stamm in Afrika wird die folgende Geschichte erzählt:
Wenn eine Frau den Wunsch in sich verspürte, einem Kind das Leben zu schenken, ging sie alleine in den Wald und wartete in der Stille lauschend auf das Lied des Kindes, das zu ihr kommen wollte.
Wenn sie das Lied schließlich hören konnte, summte sie es viele Male vor sich hin und ging dann zu dem zukünftigen Vater, um es ihn zu lehren und es mit ihm gemeinsam zu singen.
Während das Kind in Liebe gezeugt wurde, trugen die zukünftigen Eltern das Lied in ihrem Herzen, und später, während seiner Geburt, wurde es von allen gesungen, die dieser beiwohnten.
Immer wenn es Kummer hatte oder ihm ein Leid widerfuhr, wurde sein Lied gesungen – und auch bei allen wichtigen Anlässen, auf seinem Weg durch die Welt.
Das Lied begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Und wenn ein Mensch schließlich im Sterben lag, wurde sein Lied wiederum gesungen, so daß es ihn auch auf seinem Weg aus der Welt begleitete.
Diese Geschichte hörte ich von dem bekannten buddhistischen Meditationslehrer Jack Kornfield. Ich finde, daß sie von einem geradezu unglaublichen Einfühlungsvermögen zeugt. Auch wenn wir eine solche Tiefe wahrscheinlich kaum erreichen können, kann uns diese Geschichte doch inspirieren, uns auf unsere Kinder einzustimmen und uns immer wieder zu fragen, wer sie in ihrem innersten Wesen wirklich sind. Sie steht für eine innere Haltung der bedingungslosen Liebe, die ein Kind nicht deshalb schätzt, weil es unseren Erwartungen entspricht oder weil wir etwas von ihm zurückbekommen, sondern einfach nur, weil es da ist. Ich bin überzeugt, daß die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, für alle Menschen ein grundlegendes Bedürfnis ist, das allerdings nur selten befriedigt wird. Bei vielen Menschen hat sich zum Beispiel das Gefühl festgesetzt, daß sie etwas Bestimmtes leisten oder darstellen müssen, um liebenswert zu sein. So entsteht ein ungeheurer Leistungsdruck, dessen Auswirkungen nicht nur unser Leben als Eltern, sondern alle Bereiche unseres Daseins stark beeinflussen. Gleichzeitig besteht das Gefühl, diesen Erwartungen nie gerecht werden zu können, was den inneren Druck noch erhöht. Unsere eigenen Kindheitserfahrungen haben häufig dazu geführt, daß wir glauben, uns die Liebe unserer Mitmenschen verdienen zu müssen. Eine Prägung, die ungeheure Auswirkungen auf unser Innenleben hat.
Vielleicht stellen Sie sich selbst einmal die Frage: „Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die absolute Gewißheit hätte, daß ich in meinem Wesen wahrgenommen und bedingungslos geliebt werde – so wie ich bin, ohne Wenn und Aber?“
Wird dieses Bedürfnis erfüllt, hat das Kind die innere Sicherheit, daß das Leben es trägt. Die Annahme und Liebe der Eltern ist somit die wichtigste Bedingung dafür, daß ein Kind sein inneres Potential entfalten kann. Denn die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist nicht nur die Basis für unsere emotionale Ausgeglichenheit, sondern auch für die Entwicklung unserer Kreativität, Intelligenz und Fähigkeit, auf neue und unerwartete Situationen angemessen zu antworten. (Ich vermeide hier bewußt das Wort „reagieren“, da es meist eher auf eine automatische, gewohnheitsmäßige Reaktion und nicht auf eine adäquate „Antwort“ auf eine gegebene Situation hinweist.) Alle Untersuchungen aus der Entwicklungs- und Gehirnforschung haben ohne jeden Zweifel gezeigt, daß Lernen und echte Entwicklung vor allem in einem Zustand möglich sind, der von innerer Entspannung und Geborgenheit geprägt ist. Jede Art von Angst, innerer Anspannung oder Unsicherheit verhindert die Möglichkeit, der Welt mit offenen Sinnen zu begegnen und führt durch die Ausschüttung von Streßhormonen zu einer eingeschränkten Wahrnehmungsund Lernfähigkeit. Von daher ist die innere Sicherheit, die aus dem Gefühl erwächst, daß wir ohne Bedingungen so angenommen und geliebt werden, wie wir sind, die wichtigste und unerläßliche Voraussetzung für die volle Entfaltung des Menschen.
Das heißt natürlich nicht, daß wir alles gutheißen müssen, was ein Kind tut, oder ständig mit einem lächelnden Gesicht herumlaufen sollten – vielmehr geht es darum, daß das Kind spürt, daß es eine Quelle der Freude für seine Eltern ist und keine Last.
Wenn sich in einer Familie oder bei einem Paar ein Kind anmeldet, ist diese Nachricht so gut wie immer von starken Gefühlen begleitet. Egal ob schon ein oder mehrere Kinder da sind oder ob es das erste ist – immer bedeutet es einen großen Einschnitt im Leben der werdenden Eltern. Neben den verschiedensten Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln stellt sich häufig auch eine außergewöhnliche Freude, ja vielleicht sogar ein tiefes Glücksgefühl ein. Manche Psychologen sprechen dabei etwas abfällig von den „verliebten Müttern“. Tatsächlich handelt es sich um eine spontane innere Öffnung und ein herzliches Willkommen, das es dem Kind erleichtert, in der neuen Situation wirklich anzukommen.
Читать дальше