Das Gefühl von Sinn entfaltet sich daher nicht durch »sinnvolle« Handlungen oder durch Aufgaben, die wir übernehmen, sondern immer dann, wenn wir uns innerlich verbunden fühlen.
Erst dann spüren wir in der Tiefe den Platz, den wir im Verbund des Lebens einnehmen, und wir spüren die Würde, die in uns und in allen fühlenden Wesen wirkt.
Auch Würde ist ein zentraler Aspekt der Seele, genauso wie die Liebe, die aus tiefer Verbundenheit erwächst. Wir können über Würde diskutieren, wir können sie im Grundgesetz verankern, aber wir müssen sie fühlen, um sie wirklich zu begreifen. Nur dann kann sie ihre Wirkung entfalten und wird für uns zu einer lebensbejahenden Basis, die in allem Lebendigen spürbar wird.
Würde kann uns niemand geben. Wertschätzung kann uns entgegengebracht werden, aber Würde nicht. Würde ist der seinshafte Wert, der allem Lebendigen immanent ist. Sie ist in allen lebendigen Wesen bereits vorhanden, und wenn wir uns seelisch mit einer Pflanze oder einem Tier verbinden und die Einzigartigkeit, die Kostbarkeit und Zerbrechlichkeit dieses fühlenden Wesens spüren, erfahren wir auch seine Würde.
Diese Würde besteht unabhängig davon, ob uns ein Wesen oberflächlich betrachtet gefällt oder nicht. Sie ist auch nicht davon abhängig, ob uns ein Wesen nutzt oder nicht. Eine sogenannte Nutzpflanze hat die gleiche Würde wie ein sogenanntes Unkraut. Ein Mensch, der eine hohe Stellung in der Gesellschaft genießt, hat die gleiche Würde wie eine einfache Hausfrau. All diese Kategorien von wertvoll und nicht wertvoll bestehen in unserem Verstand. Wenn wir uns aber fühlend mit Menschen, Tieren und Pflanzen verbinden und sie liebend in ihrer Einzigartigkeit betrachten, werden wir in allen Wesen die gleiche, unantastbare Würde entdecken.
Spätestens hier müssen wir anerkennen, dass nicht nur Menschen fühlende Wesen sind und damit eine Seele und eine Würde besitzen, sondern auch Bäume und Gräser, Kühe und Insekten. Von hier aus sieht die Welt anders aus. Hier gibt es nicht den intelligenten Menschen und ihm gegenüber eine unbeseelte Natur, die uns zur Verfügung steht, um uns zu ernähren und zu erfreuen, sondern es gibt nur das Eingebundensein in eine Welt von ungeheuer vielfältigen, lebendigen und beseelten Wesen, die alle die gleiche Lebensberechtigung und Würde haben wie wir selbst.
Aus dieser Perspektive ist der zentrale Satz in unserem Grundgesetz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ungenügend. Vielmehr müsste er heißen: »Die Würde aller Lebewesen ist unantastbar.« 4
Wie Seele und Verstand zusammenwirken können
Wenn wir in einer wirklichen Verbindung mit unserer Seele sind, nutzen wir das machtvolle Instrument unseres Verstandes anders. Es geht dann nicht mehr um die Frage, wie wir andere Wesen zu unserem Vorteil benutzen können. Denn wenn wir liebend verbunden sind und die Würde des Lebens in allem spüren, werden wir nicht mehr unser Wohl über das Wohl von anderen stellen können. Wir würden ja auch nicht unsere Kinder für unseren Vorteil ausbeuten oder schädigen.
Nein, wenn die Seele mit ihrer Verbundenheit und Würde im Zentrum unseres Menschseins steht, geht es nur noch um die Frage, wie wir das Miteinander in Vielfalt, was Leben zuinnerst ausmacht, mit unserem Dasein und unserer Intelligenz als Mensch unterstützen können. Unser Verstand agiert dabei nicht abgekoppelt von unserer Seele, sondern als machtvolles Werkzeug, das seine Kreativität für aufbauende, konstruktive Prozesse einsetzt. Erst wenn der Verstand sich der Seele unterordnet, nimmt er wieder seinen angestammten Platz ein und wird zu einem kreativen Instrument des Friedens, der Demut und der Liebe.
Das ist freilich nicht ganz einfach und bleibt eine immerwährende Aufgabe. Denn die innere Verbindung herzustellen, ist kein einmaliger Vorgang. Sie muss immer wieder neu gefühlt und aktualisiert werden. Wir brauchen dazu im eigenen Leben
Besinnungsräume, wie die Meditation oder die Natur, in denen wir uns immer wieder in der Tiefe mit unserer Seele verbinden können. Und wir sollten auch in unserer Gesellschaft der Seele und der Herzensbildung viel mehr Wert beimessen. Das könnte bei den Kindern in der Schule beginnen. Denn wie wollen wir der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden, dass der Verstand wieder mehr der Seele dient, wenn wir bereits bei unseren Kindern hauptsächlich kognitive Leistungen fördern?
Wann ist es geschehen, dass sich der Verstand von der Seele abgekoppelt und immer mehr zu einer expansiven Kraft entwickelt hat, die die Würde des Lebens missachtet und aus Profitgier verletzt? Wahrscheinlich gab es diese Tendenz schon immer. Sie mag seit der Aufklärung noch einmal zugenommen haben, da dem Verstand seit dieser Zeit eine besonders hohe gesellschaftliche Wertigkeit beigemessen wird. Doch wie gesagt, vermutlich ist die Gefahr, dass sich der Verstand von der fühlenden Seele und damit vom grundlegenden Wissen um das Eingebundensein abkoppelt, im Menschen angelegt.
Eine besondere Tragweite erhält dieser Vorgang dadurch, dass wir als Menschen seit der Industrialisierung derart machtvolle Maschinen zur Verfügung haben. Eine abgekoppelte Intelligenz, die nur das »Weiter, Schneller und die Expansion« im Sinn hat, schädigt inzwischen die Ökosysteme so massiv, dass sie sogar die Menschheit und das Leben auf der Erde in seiner Ganzheit bedroht. Wenn wir jetzt keine grundlegende Korrektur vornehmen und wieder der Seele mit ihrer Liebe und Würde den ersten Platz geben, werden »technische Korrekturen«, wie die Umstellung auf erneuerbare Energien, uns nicht wirklich retten können: Sie greifen zu kurz und lassen die tiefere Ursache außer Acht.
Fragen zur eigenen Reflexion
• Wie sehe ich die Beziehung zwischen Mensch und Natur? (Male ein Bild dazu oder visualisiere diese Beziehung.)
• Kann ich empfinden, dass Pflanzen und Tiere »fühlende Wesen« sind?
• Wie begegne ich Pflanzen oder Tieren, wenn sie fühlende Wesen sind und eine Würde haben?
• Was steht üblicherweise im Zentrum meines Lebens: der Verstand oder die Seele? Visualisiere die Beziehung zwischen Seele und Verstand fantasievoll.
• In welcher Situation habe ich mich tief verbunden gefühlt? Welchen Stellenwert hat der Verstand in diesen Momenten?
• Was unterstützt mich dabei, mich tiefer mit meiner Seele zu verbinden?
KAPITEL 3
Wir sind keine Opfer
Habt ihr erst einmal erkannt, dass ihr selbst der Urheber eurer Probleme seid, werdet ihr den Schuldigen nicht mehr außerhalb von euch suchen.
GENDÜN RINPOCHE 5
Kürzlich war ich auf einer Demonstration von »Fridays for Future«. Es war bewegend, wie die jungen Menschen vorneweg zogen und mit jugendlichem Enthusiasmus ihren Wahlspruch schmetterten: »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.« Dieser Spruch war gut gewählt. Ich schaute mich um und sah Kinder und Jugendliche in jedem Alter vertreten. Sogar Babys wurden von ihren Eltern mitgetragen. Ich war zu Tränen gerührt. Ja, es stimmte. Diese unschuldigen Wesen sind jetzt da. Sie sind voller Hoffnung und Lebensmut auf dieser Welt angekommen und fordern nun lautstark und in aller Unschuld ihr Recht auf eine lebenswerte Zukunft ein.
Auch viele Erwachsene jeden Alters waren zugegen und zogen, meist schweigend, hinter dem lärmenden Kopf des Demonstrationszuges her. Wieso schwiegen die Erwachsenen? Wieso wagten sie es nicht, das Motto der Jugendlichen in den Mund zu nehmen, geschweige denn laut zu verkünden? Ich glaube, es lag nicht nur daran, dass Erwachsene nicht mehr so enthusiastisch sein können wie Kinder, sondern vor allen Dingen daran, dass jedem Erwachsenen, der einigermaßen reflektiert ist, dieser Satz im Hals stecken bleibt. Denn an wen richtet sich dieses Motto? Wer ist »ihr«?
An die Politiker, die eine Verantwortung für die kollektiven Strukturen und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel tragen? An die Erwachsenen, die seit Generationen in den westlichen Industrienationen über ihre Verhältnisse leben, die dadurch die Ökosysteme schädigen und den zukünftigen Generationen eine ungeheure Last aufbürden?
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