Warum unterliegen wir diesem Zwang, Gegner zu schaffen und Groll zu nähren, wenn es uns selbst und die Menschen um uns herum letzten Endes nur vernichtet? Als ich die verschiedenen Schichten meines Grolls gegen die Welt im Anschluss an die Terroranschläge genauer untersuchte, bemerkte ich das alte Gefühl, nicht zu dieser Welt dazuzugehören – ein Gefühl, das ich bis in meine Kindheit zurückverfolgen konnte. Ich hatte mich wie ein Außerirdischer gefühlt, als ich aufwuchs, weil die Erwachsenen in meiner Umgebung größeres Interesse daran zu haben schienen, mich für ihre eigenen Pläne zu benutzen, als herauszufinden, wer ich wohl sein mochte. Als Folge davon, dass ich meine Mutter beiseiteschieben musste, weil sie mich nicht ich selbst sein lassen konnte, hatte ich mich von der Liebe getrennt und war die ganzen frühen Jahrzehnte meines Lebens vor der Liebe auf der Hut geblieben.
Als Folge davon hatte ich gelernt, meinen Intellekt, zumindest teilweise, als Mittel zu entwickeln, mich vom Schmerz dieser Getrenntheit von der Liebe abzuspalten. Aber viel tiefer als jedes Bedürfnis zu schreiben, etwas zu erreichen oder eine Spur auf der Welt zu hinterlassen, war da ein nicht zu leugnendes Verlangen, welches mich demütiger machte, wenn ich ihm in seiner nackten Einfachheit begegnete: An der Wurzel von allem, was ich tat, das musste ich zugeben, war mein größter Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden.
Auf dem Grunde meines Grolls gegen eine verrückt gewordene Welt entdeckte ich das verletzliche Kind, das immer noch nicht wusste, dass die Liebe voll verfügbar oder wirklich verlässlich ist. Obwohl es augenscheinlich in meinem Leben viel Liebe gab und ich viele Jahre lang über intime Beziehungen geforscht und geschrieben hatte, entdeckte ich nichtsdestotrotz eine dunkle, versteckte Seite in mir, wo ich der Liebe nicht vollkommen vertraute. Und ich erkannte, dass der Groll hier seine Wurzeln schlug – an diesem Ort, wo ich gegen eine Welt stand, die nicht freundlich gesinnt zu sein schien. Hier stand ich in mir dem gleichen Groll von Angesicht zu Angesicht gegenüber, der die ganze Welt vergiftet und all die Schuldzuweisung und die Gegenbeschuldigungen hervorbringt, die am Ende zu Gewalt, Scheidung, Blutrache und Krieg führen. Das Erkennen dieses Zusammenhanges zwischen der Stimmung von mangelnder Liebe und der Stimmung des Grolls in mir selbst vermittelte mir ein tieferes Verständnis davon, warum die Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen ständig fehlschlägt.
Da ich den Wunsch verspürte, dies noch mehr zu erforschen, beschloss ich, mit der Frage des Grolls an die Studenten in einem Kurs heranzutreten, den ich unterrichtete, als die Terroranschläge gerade eben erst stattgefunden hatten und der Grad der Angst und des Zornes noch hoch war. Ich fing damit an, dass ich sie bat, sich auf eine nervenaufreibende Situation in ihrem Leben zu konzentrieren. Dann bat ich sie, sich anzusehen, wie ihr momentaner Stress damit in Bezug stand, dass sie sich selbst in Opposition zu etwas gesetzt hatten, das sie als Gegner behandelten. Einige wählten eine Beziehung oder eine arbeitsbezogene Situation als Konzentrationsobjekt. Andere nahmen die terroristischen Handlungen, die Reaktion unserer Regierung oder das Chaos auf der Welt.
Meine Studenten empfanden es als aufschlussreich zu erkennen, wie ihre Anspannung in allen Fällen daraus erwuchs, dass sie zu etwas nein sagten, das sie als Gegner behandelten. Als Nächstes bat ich sie zu überprüfen, ob sie in diesem Kampf einen altbekannten Groll gegenüber anderen finden konnten, der über ihr ganzes Leben zurückreichte. Und ich bat sie, diesen Groll in einem Satz in der Gegenwart auszudrücken, beginnend mit „Du…“. Hier sind einige der Groll-Sätze, die sie sagten:
„Du willst mich ausnutzen.“
„Du schätzt mich nicht als das, was ich bin.“
„Ich bin dir nicht wichtig. Du bist nur an dir selbst interessiert.“
„Du willst mich beherrschen.“
„Du siehst mich nicht.“
„Du respektierst mich nicht.“
„Du willst mich fertigmachen.“
„Du akzeptierst mich nicht, wenn ich nicht in dein Programm passe.”
„Du benützt mich zu deinen Zwecken.“
„Du schenkst mir deine Zeit und Aufmerksamkeit nicht.“
„Du erklärst meine Bedürfnisse für unberechtigt.“
„Du erkennst nicht, dass ich gut bin.“
Als die Studenten der Reihe nach ihren Groll ausdrückten, wurde klar, dass dies alles verschiedene Formen derselben Klage waren, des grundlegendsten Kummers, den es gibt: Du liebst mich nicht. Genauer: Du liebst mich nicht so, wie ich bin. Das ist die universelle Wunde, die den Treibstoff für unseren Kampf mit der Welt liefert.
Liebe ist das Erkennen von Schönheit. Jeder von uns sehnt sich danach, die Schönheit und das Gute in sich zu kennen und Vertrauen darin zu haben. Besonders als Kinder brauchten wir jemand anderen, der die Schönheit unserer Seele sah und uns diese Schönheit gleich einem Spiegel widerspiegelte, so dass wir sie selbst sehen und wertschätzen konnten. Wenn die Schönheit in uns nicht erkannt wurde, empfanden wir ein Fehlen von Liebe, und unser System erlebte einen Schock und verschloss sich.
Aus uns unbegreiflichen Gründen schienen andere Menschen, Gott oder das Leben selbst uns die Anerkennung und das Verständnis vorzuenthalten, von denen wir instinktiv wussten, dass wir sie brauchten, um zu gedeihen. Das machte uns verrückt. Wir wussten, dass uns Liebe zustand und dass wir eins mit ihr sein mussten, dass wir fühlen mussten, dass sie uns erfüllte und vollkommen durchdrang. Es gab bestimmt jemanden oder etwas, dem man die Schuld geben konnte! So entwickelten wir einen Groll gegen andere Menschen oder gegen das Leben selbst, weil sie uns nicht die Liebe boten, die wir brauchten, oder gegen uns selbst, weil es uns nicht gelungen war, diese Liebe zu gewinnen.
Große Liebe
Es ist wahr, dass wir ein Recht auf vollkommene Liebe haben. Das ist unser Recht von Geburt an. Das Problem ist aber, dass wir sie an den falschen Orten suchen – außerhalb von uns selbst, in unseren unvollkommenen Beziehungen mit unvollkommenen Menschen, die ebenso verwundet sind wie wir selbst. Das frustriert und enttäuscht uns unvermeidlich. Obwohl die vollkommene Liebe in einzelnen Augenblicken in Beziehungen durchscheinen kann, können wir uns nicht auf andere Menschen als stetige Quelle dafür verlassen.
Obwohl sich die menschliche Liebe gewöhnlich als unvollkommen zeigt, gibt es eine andere Dimension von Liebe, welche vollkommen, ununterbrochen und immer verfügbar ist . Sie fließt aus der letztendlichen Quelle von allem – ob wir es nun Gott, Tao oder die Buddha-Natur nennen – direkt in unser Herz. Das ist großartige Liebe, absolute Liebe – reine, bedingungslose Offenheit und Wärme – welche in der Tat dem innersten Kern unseres Wesens innewohnt.
Wenn die großartige Liebe wie die Sonne ist, ist unsere Verletztheit wie eine Wolkendecke, die vorübergehend die Sonnenstrahlen blockiert. Glücklicherweise kann die uns angeborene Fähigkeit zu Wärme und Offenheit nicht zerstört werden, ebenso wenig wie der Sonne von den Wolken Schaden zugefügt werden kann. Deshalb erfordert die Heilung der Wunde des Herzens nicht, dass man etwas Kaputtes repariert. Ein verwundetes Herz zu besitzen ist wie sich verirrt zu haben – verirrt in den Wolken, die den Zugang zur Sonne, die immer scheint, zeitweise blockieren. Obwohl wir ein ganzes Leben lang in diesen Wolken verloren bleiben können, bedeutet das nicht, dass die Sonne selbst verloren gegangen oder beschädigt worden wäre. Das Heilen der Liebeswunde erfordert deshalb, dass wir uns der Sonne aussetzen, damit sie das tun kann, was sie von Natur aus will: über uns scheinen.
Die Liebe hereinlassen
Die meisten Religionen versuchen das Problem der menschlichen Lieblosigkeit dadurch zu lösen, dass sie uns ermahnen, großzügiger zu lieben. Der Weg dahin, geliebt zu werden, bestehe darin, zuerst zu lieben. „Demjenigen, der hat, wird gegeben werden.“ „Es ist besser zu geben als zu nehmen.“
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