Auf kollektiver Ebene führt diese tiefe Wunde in der menschlichen Psyche zu einer Welt, die von Kampf, Stress und Uneinigkeit zerrissen ist. Gemeinden und soziale Einrichtungen auf jeder Ebene – Ehen, Familien, Schulen, Kirchen, Unternehmen und Nationen auf dem ganzen Erdball – befinden sich nicht in Harmonie und sind in sich gespalten. Die größten Übel auf unserem Planeten – Krieg, Armut, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, ökologische Schäden – stammen alle von unserer Unfähigkeit, einander zu vertrauen, Unterschiede zu respektieren, respektvolle Dialoge zu führen und zu gegenseitigem Verständnis zu gelangen.
So kommen alle Schönheit und aller Schrecken dieser Welt aus derselben Wurzel: dem Vorhandensein oder dem Fehlen von Liebe. Sich nicht geliebt zu fühlen und das dann zu verinnerlichen, ist die einzige Wunde, die es gibt. Es verkrüppelt uns und lässt uns zusammenschrumpfen und uns verhärten. Wenn man von einigen biochemischen Ungleichgewichten und neurologischen Störungen absieht, könnte das Diagnosehandbuch für psychische Leiden, das (in Amerika, Anmerkung der Übersetzerin) als DSM bekannt ist, gut mit dem folgenden Satz beginnen: „Hierin ist all das Elend beschrieben, wie sich Menschen fühlen und verhalten, wenn sie nicht wissen, dass sie geliebt werden.“ All unser Hass auf uns selbst und auf andere, all unsere Angst, unser Egoismus, unsere Kommunikationsprobleme und unsere sexuellen Unsicherheiten, all die Krankhaftigkeit, die Neurosen und Destruktivität auf der Welt und der gesamte Albtraum der Geschichte mit all seinem Blutvergießen und seiner Grausamkeit lassen sich auf einen einfachen Nenner bringen: Die Tatsache, dass wir nicht wissen, dass wir geliebt werden und liebenswert sind, lässt das Herz erkalten. Und all die Tragödien des menschlichen Lebens ergeben sich daraus.
Wenn die Menschen nicht wissen, dass sie geliebt werden, bildet sich ein kaltes schwarzes Loch in der Psyche, wo sie anfangen, Glaubenssätze zu speichern, wie etwa dass sie bedeutungslos oder unwichtig und nicht schön und gut genug seien. Dieser eisige Ort der Angst führt zu terroristischen Anschlägen aller Art – nicht nur in der Form von explodierenden Bomben, sondern auch von emotionalen Angriffen, die sich in uns und in unseren Beziehungen abspielen.
Äußerer Terror ist nur ein Symptom von innerem Terror. Wenn sich Menschen nicht geliebt oder schlecht behandelt fühlen, suchen sie nach jemandem, dem sie die Schuld geben können, jemanden, an dem sie ihre schlechten Gefühle auslassen können. Obwohl Krieg und Terrorismus gewöhnlich als politische Probleme betrachtet werden, ist es doch eine Tatsache, dass Menschen, in denen die Liebe frei fließt, keine Bomben werfen. Der Terrorismus ist wie der Krieg selbst ein Symptom für die Abgetrenntheit von der Liebe, die unsere Welt verseucht.
Wenn wir diese Plage nicht dadurch ausmerzen können, dass wir die Stimmung von mangelnder Liebe heilen, die über Generationen hinweg weitergegeben worden ist, wird die Herrschaft von Furcht und Terror auf dieser Erde nie überwunden werden. Ein „Krieg gegen den Terrorismus“ ist ein Oxymoron, eine Unmöglichkeit, weil man Terror nicht durch Krieg eliminieren kann, sondern dadurch nur neuen Terror hervorruft. Nur in einer liebevollen Umgebung können wir uns jemals wirklich sicher vor Angriffen fühlen. „Wir müssen einander lieben oder sterben“ 4, schrieb W.H. Auden in einem Gedicht beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Mir ist klar, dass manche Leser es vielleicht als naiv und unrealistisch betrachten, Wahrheiten über die Liebe in Diskussionen über politische Themen wie Krieg und Terrorismus einzubringen. Natürlich erfordern Kriege, ethnische Konflikte und soziale Ungerechtigkeit politische Lösungen. Gleichzeitig zerschlagen sich politische Lösungen, denen es an echtem Interesse und Respekt für alle Parteien mangelt, am Ende doch und führen zu neuen Konflikten 5.
Führende religiöse und soziale Aktivisten haben oft die Neigung zum Krieg als ein Symptom der Entfremdung von der Liebe verstanden und die zentrale Rolle betont, die die Liebe bei der Lösung der Probleme auf der Welt spielen muss. Martin Luther King junior 6erkannte z.B. die Rolle, die Groll beim Entstehen von Kriegen spielt, und argumentierte, dass nur die Liebe diese Krankheit heilen könne: „Früher oder später werden alle Menschen auf der Welt einen Weg finden müssen, wie sie friedlich zusammenleben können… Wenn das erreicht werden soll, muss der Mensch für alle menschlichen Konflikte eine Methode entwickeln, bei der er Rache, Aggression und Vergeltung ablehnt. Die Grundlage einer solchen Methode ist die Liebe.“
Das ist eine edle Ansicht. Wie kann die Menschheit aber wirklich ihre zwanghafte Neigung zur Gewalt und ihren Zynismus hinsichtlich der Liebe überwinden? In diesem Buch will ich darlegen, dass Krieg von dem Groll gegen andere kommt und dass dieser Groll seine Wurzeln in unserer Liebeswunde hat – für die wir andere schuldig erklären und es an ihnen auslassen. Dieses Buch beschreibt einen praktischen Weg, wie man dieses menschliche Kernproblem zutiefst verstehen und damit umgehen kann.
Liebe und Groll
Meine erste Reaktion auf die Terroranschläge von 2001 und das Kriegsfieber, das sie auslösten, war Wut und Entrüstung. Ich erkannte aber bald, dass meine Reaktion ein Teil des gleichen Problems war, das mir in der Welt generell Sorgen machte. Die Terroristen hatten ihren gerechtfertigten Groll gegen Amerika. Die amerikanische Regierung hatte ihren berechtigten Groll gegen die Terroristen. Und wie diese kriegsführenden Parteien hatte auch ich einen gerechtfertigten Groll – gegen eine Welt, die dem Krieg und der Rache anhing, und gegen Verbreiter von Hass auf allen Seiten. Trotz meines brennenden Wunsches nach einer friedlichen Welt legte auch ich mir den Kriegsmantel um, solange ich Terroristen und Kriegstreiber als eine Art Gegner betrachtete, denen zu grollen war. Als ich erkannte, dass meine Investition in den Groll das Gleiche war wie das, was allen Hass und alle Gewalt auf der Welt antreibt, katapultierte mich das in einen Prozess der Seelenerforschung und der inneren Entdeckung hinein.
Mein Wunsch zu verstehen, wie sich das Gold der Liebe in Blei verwandelt, zwang mich, mir den Groll lange und genau anzuschauen. Als ich meine eigene Beteiligung am Groll und sein Wirken in meinen Beziehungen untersuchte, erkannte ich, dass etwas in mir große Befriedigung darin fand, ein Gegenüber – jemanden oder etwas gegen mich – aufzustellen und dieses Gegenüber dann ins Unrecht zu setzen, während ich mich selbst zur verletzten Partei machte, der das angemessene Urteil oblag. Ich muss zugeben, dass der Groll etwas an sich hatte, was wirklich ziemlich fesselnd war.
Überall, wo wir hinsehen, finden wir Menschen, die die Geisteshaltung des Grolls pflegen. Unsere Ehen und Familien, Schulen und Arbeitsplätze sind alle zu Kampfplätzen geworden, wo die Menschen eine große Menge ihrer kostbaren Lebensenergie im Krieg gegeneinander verbrauchen, einander die Schuld zuweisen und miteinander abrechnen. Dann gibt es da noch die „Politik des Grolls“ 7, bei der politische Kampagnen die Menschen in ihrer Unzufriedenheit und Wut manipulieren, indem sie geeignete Sündenböcke zur Zielscheibe machen, um Stimmen zu gewinnen. Währenddessen sind auf der Weltbühne verschiedene religiöse und ethnische Gruppen in ständige gegenseitige Beschuldigung und Vergeltung verstrickt.
Diese Tendenz, Gegner aufzustellen, gegen die man kämpfen kann, ist auch etwas, das in uns selbst abläuft. Vielleicht kämpfen Sie täglich gegen Ihre Arbeit und betrachten sie als ein schlingendes Monster, das Sie aufzufressen droht. Oder Sie kämpfen mit Ihren Aufgabenlisten, mit den verschiedenen Quellen von Druck in Ihrem Leben, dem Verkehr, dem Wetter, den schwierigen Gefühlen, die in Ihnen zirkulieren, oder sogar mit dem Leben selbst. Am schmerzhaftesten ist die innere Schlacht, die in Ihrem Geist und in Ihrem Körper tobt, wenn Sie sich selbst ins Unrecht setzen oder schlechtmachen – was einen enormen emotionalen Stress und Selbsthass verursacht. Manche Menschen stellen sich derart gegen sich selbst, dass sie schließlich das Monster töten, für das sie sich selbst halten.
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