Auf der Ebene der Erscheinungen bedeutet dies, dass der hölzerne Tisch nicht von all den Ursachen und Bedingungen getrennt werden kann, die zu seiner Existenz beitragen: zum Beispiel dem Tischler, den Bäumen, der Atmosphäre, dem Sonnenlicht, der Erde, dem Wasser, den Würmern in der Erde und den Insekten, von denen jedes in Abhängigkeit von weiteren zahllosen Ursachen und Bedingungen existiert, sodass letztlich jedes Ding mit allen Dingen in Beziehung steht und alle Lebewesen mit allen anderen Lebewesen. Auf der Ebene tiefer Einsicht gibt es nirgendwo etwas, was unabhängig und getrennt existierte – jedes scheinbar getrennte „Ding“ ist leer (Sanskrit: shūnya), insofern es keine Existenz für sich besitzt, die sie vor einer tiefen Untersuchung dieser Art zu besitzen schien.
Im Verständnis des Mahāyāna-Buddhismus schneidet die Einsicht, die so erkennt, dass Phänomene leer sind, weil sie in dem beschriebenen Sinn keine Existenz für sich besitzen, sogar noch tiefer in die inneren Ursachen von Leiden als die Einsicht in die Vergänglichkeit. Diese Einsicht dekonstruiert die Tendenz, zu verdinglichen und sich an Erfahrungen zu klammern, noch vollständiger, da die Weisheit der Leere kein unabhängiges Ding findet, dem auch nur Vergänglichkeit zugeschrieben werden kann. Wenn die leere Natur der Phänomene so erkannt wird, bedeutet das, sogar über verdinglichte, konzeptuelle Konstrukte eines getrennten „Beobachters“ und von „Beobachtetem“ hinauszugehen, um sich in eine nicht konzeptuelle, nicht duale Bewusstheit hinein zu entspannen, die die ganze Welt und ihre Wesen letztlich als ungeteilten Raum erkennt (Conze, 1973). Dies ist keine Form von Nihilismus, denn Dinge erscheinen weiterhin durch die Kraft ihrer in wechselseitiger Abhängigkeit erzeugten Modi der Existenz, und die Lebewesen leiden weiter durch Verdinglichen, Anklammern und Reagieren auf Dinge und aufeinander, als wären sie alle voneinander getrennt und würden aus sich und für sich existieren – als wären sie nicht leer. Vielmehr erkennt die nicht duale Weisheit alle Wesen als in dem leeren Grund aller voneinander abhängigen Dinge ungetrennt von einem selbst an (Sanskrit: dharmadhātu), was ein allumfassendes, unbedingtes Mitgefühl für alle Kreaturen unterstützt.
Die Leere der Welt so zu erkennen bedeutet, dass Nirvāna, die leere Essenz der Erfahrungen, von der Welt voneinander abhängiger, sich verändernder Erscheinungen auf dieselbe Weise ungetrennt ist, wie der Raum von allen Formen ungetrennt ist, die er enthält. Leere so erkennen und verwirklichen, ermöglicht daher die Freiheit, an der Welt teilzuhaben, ohne sich an sie zu klammern, und zwar mit unbedingtem Mitgefühl für alle, die deshalb leiden, weil sie sich an ihre eigenen konkretisierten Projektionen von sich selbst und anderen als selbstexistent klammern und auf sie reagieren. Wie ein Autor es ausdrückt: „[Dies] bedeutet zum Beispiel, dass ein Bodhisattva mit Übeltätern Schulter an Schulter sein kann, um sie zu erreichen und zum Guten zu ziehen, da er weiß, dass ihre schlechten Eigenschaften keine Realitäten an sich sind“ (Harvey, 1990, S. 125). So ein radikales Mitgefühl ist auch in der Psychotherapie von entscheidender Bedeutung – besonders bei Klienten, die anderen Schaden zufügen.
Nicht konzeptuelle Einsicht in die Leere (Sanskrit: shūnyatā) zu haben, jenseits aller Verdinglichung und allen Festhaltens (und daher jenseits der inneren Ursachen von Leiden), bedeutet, sehr großes Mitgefühl für alle Menschen zu empfinden, die weiter in den Ursachen von Leiden gefangen sind und die letztlich als ungetrennt von einem selbst empfunden werden. Diese tiefe Einsicht als die Basis für dieses allumfassende Mitgefühl wird die Vollkommenheit der Weisheit genannt (Sanskrit: prajñā-pāramitā) .
Die sechs vollkommenheiten
In frühen Mahāyāna-Texten werden die vier unermesslichen inneren Haltungen von Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut in Übereinstimmung mit diesen Lehren neu formuliert. Tiefster Gleichmut wird jetzt mit der Vollkommenheit von Weisheit selbst identifiziert – Weisheit, die in sich stabil, ruhig und frei von Erwartungen oder Parteilichkeit ist, weil sie im unbedingten, ungeteilten, leeren naturgegebenen Wesen der Dinge jenseits von Unterscheidung gegründet ist (Conze, 1973, 1979). Liebe, Mitgefühl und Mitfreude, die von dieser Weisheit ausstrahlen – dessen bewusst, wie Wesen leiden, indem sie sich an ihre Erfahrungen klammern –, motivieren Handlungen, um ihre Bedürfnisse auf jeder Ebene zu befriedigen und sie letztlich zu vollkommener Freiheit zu weisen. Diese Aktivität wird als „großzügig, diszipliniert, geduldig, unermüdlich und tief geerdet“ beschrieben (Conze, 1973, S. 199). Diese fünf paradigmatischen Aspekte von Aktivität, die auf andere gerichtet ist, sind, zusammen mit der Vollkommenheit der Weisheit, die sie bestimmt, die sechs Vollkommenheiten, die den Bodhisattva-Weg des Erwachens in sich enthalten.
Weisheit und Mitgefühl zusammen kultivieren
Wie in Kapitel 1 erwähnt sehen die buddhistischen Traditionen Weisheit und Mitgefühl als verbunden – wie die zwei Flügel eines Vogels. Obwohl wir alle das Potential besitzen, die Vollkommenheit der Weisheit zu verwirklichen, machen unsere tief verwurzelten Tendenzen, uns an alle Dinge als an sich getrennt und für sich existierend zu klammern, es schwierig, über ein rein konzeptuelles Verständnis solcher Lehren zu einer nicht konzeptuellen, nicht dualen Erkenntnis ihrer Bedeutung hinauszugehen, die unsere Reaktionen auf andere tief transformieren kann. Da allumfassendes Mitgefühl die primäre Antwort nicht dualer Weisheit auf die Welt ist, bedeutet dies, dass man den Geist mit seinem Potential für diese Weisheit harmonisiert, wenn man sich in diesem Mitgefühl ausbildet, bevor man diese Weisheit direkt verwirklicht hat. Mit anderen Worten, wenn man universelles Mitgefühl übt, ist das eine Hilfe dabei, wenn man den Geist aus den engen Grenzen seines Klammerns an sich selbst und an einen Dualismus befreien möchte, indem man ihm den Mut und die Kraft verleiht, seine Bezugsrahmen in die grenzenlose Leere nicht konzeptueller Weisheit zu entlassen. Kultivieren von Weisheit grenzenloser, ungeteilter Leere stärkt seinerseits weiter ein analog grenzenloses, unparteiliches Mitgefühl (Harvey, 1990; Makransky, 2010). In den indischen Mahāyāna-Traditionen üben die Schüler ausgiebig Meditationen von Mitgefühl, um ihrem Geist die Kraft zu verleihen, nicht konzeptuelle Weisheit zu verwirklichen, und wenn nicht konzeptuelle Weisheit auftaucht, wird sie genutzt, um Mitgefühl zu stärken.
Die systematische Kultivierung von Mitgefühl und Weisheit wird in einem Text von Kamalashīla, einem indischen Mahāyāna-Lehrer des 8. Jahrhunderts, mit dem Titel Die Essenz der Meditation (Dalai Lama, 2005) erklärt. Er gibt Anleitungen dafür, wie man Mitgefühl für nahestehende, für neutrale und für feindliche Personen kultivieren kann, was letztlich in Mitgefühl für alle Lebewesen kulminiert. Auf jeder Stufe reflektieren wir über die Identität von uns selbst und anderen in den drei Ebenen von Leiden und ihrem Wunsch, von Leiden frei zu sein. Wir reflektieren auch über unsere Beziehung mit allen anderen durch wechselseitige Verbundenheit, und wir fangen an zu lernen, alle als Teil unserer eigenen leidenden Familie zu betrachten.
Wie Sie vielleicht bemerken, ähnelt diese Meditation der Kultivierung von Mitgefühl im Theravāda, aber in der Mahāyāna-Tradition wird die Kraft des Mitgefühls unmittelbar in einen starken Wunsch geleitet, das Erwachen eines Buddha, also die Art Erleuchtung zu erlangen, die die kunstreichen Mittel besitzt, anderen zu helfen, Freiheit von Leiden zu finden. Dieser Wunsch wird der Geist (spirit) der Erleuchtung (bodhicitta) genannt und von dem Bodhisattva- Gelöbnis bestärkt, um aller Wesen willen die geschickten Mittel (upāya-kaushalya) von Mitgefühl und Weisheit zu verwirklichen (Dalai Lama, 2005). Mit der Kraft dieses feierlichen Gelöbnisses tritt der Bodhisattva in Stufen meditativer Konzentration ein, die dem Geist genug Stabilität verleiht, die substanzlose Natur aller Aspekte der Erfahrung zu untersuchen, bis nicht konzeptuelle Weisheit aufscheint. Diese Weisheit der Leere stärkt das Mitgefühl des Bodhisattva mit allen, die dadurch leiden, dass sie an dem hängen, was leer ist (Dalai Lama, 2005). Das gibt seinem Geist die Kraft, sich tiefer in die Weisheit zu lassen. Diese Synergie von Mitgefühl und Weisheit kommt dadurch zur Wirkung, dass der Bodhisattva auf dem Weg zur Buddhaschaft die sechs Vollkommenheiten praktiziert – indem er auf jeder Stufe mitfühlend seine Zeit, Energie, Geduld, seine Ressourcen und seine Kraft der Präsenz auf jede nur mögliche Weise einsetzt, um das Leiden der Wesen zu erleichtern und aufzulösen, während er die leere Natur all solcher Aktivität anerkennt.
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