Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung sind den meisten Menschen nicht bewusst, aber der Buddha durchschaute sie während seines Erwachens (bodhi) . Das Mitgefühl des Buddha, wenn er Menschen wünschte, frei von Leiden zu sein, richtete sich auf alle drei Ebenen, deren zwei letztere auch da sind, wenn offensichtliches Leiden fehlt. Aus diesem Grund galt das Mitgefühl des Buddha allen Wesen in gleicher Weise. Es ist dieses unparteiliche, unbedingte und allumfassende Mitgefühl, das der Buddha seinen Anhängern vermittelte und an sie weitergab.
Achtsamkeit
Auf dem Weg zum Erwachen, wie der Buddha ihn gelehrt hat, hat Achtsamkeit eine Schlüsselfunktion. Kultivieren von Achtsamkeit bedeutet, waches Bewusstsein der gegenwärtigen Erfahrung, ohne zu werten, lernen und üben (siehe Kapitel 2). Wie schon bemerkt entstehen die Leiden der Vergänglichkeit und Leiden selbstbezogener Konditionierung aufgrund der unbewussten Gewohnheiten der Verdinglichung – weil der Geist versucht, ein Gefühl der Permanenz von einem selbst und der Welt herzustellen und festzuhalten, das der Geist auf seine vergängliche Erfahrung projiziert. Wenn die Tendenzen, an Illusionen von Permanenz festzuhalten, von wacher Bewusstheit erhellt werden, werden wir uns neu bewusst, wie viel Angst und Unsicherheit unser Klammern erzeugt hat. Wir können dann erkennen, wie diese unterbewussten Schichten von Leid in allen anderen Menschen wirksam sind. So entstehen immer stärker Sympathie und Mitgefühl für einen selbst und für andere, während wir Einsicht gewinnen, dass das Selbst vergänglich und seinem Wesen nach ein Konstrukt ist. Sympathie und Mitgefühl in Beziehung zu uns selbst prägen die sanfte, annehmende Qualität achtsamer Aufmerksamkeit und ermöglichen unserem Geist, sich weiterer Einsicht zu öffnen. Und dies hilft dann wiederum, ein zunehmend mitfühlendes und differenziertes Bewusstsein von anderen in ihrem bewussten und unterbewussten Leiden zu verwirklichen und zu stärken.
Die innersten Ursachen von Leiden, wie es von dem Buddha diagnostiziert wurde – die Illusion eines verdinglichten fixierten, unveränderlichen Selbst und die auf Täuschung beruhenden Reaktionen von Anhaften und Ablehnung, die sich um es aufbauen –, werden von einer sich vertiefenden Einsicht oder Weisheit zunehmend aufgeweicht und geschwächt. Diese Einsicht, die das Konstrukt der Getrenntheit des Geistes durchschneidet, ermöglicht uns, andere als fundamental uns gleich zu erleben und wahrzunehmen, und stärkt dadurch unsere Sympathie für sie (Fulton, 2009). Wenn jemand durch so eine Einsicht von den inneren Ursachen von Leiden ganz befreit ist, so wird gelehrt, wird Nirvāna erlangt – eine zutiefst innere Freiheit von den Leiden, die mit dem Festhalten an einem Selbst verbunden sind. Wenn sich diese Einsicht in ihrer Verwirklichung von Nirvāna zunehmend vertieft, erweitert sie sich zu der Erkenntnis, dass das darunter liegende Potential für die innere Freiheit auch das ist, was man selbst und andere, was alle Menschen gemeinsam haben. Das aus dieser befreienden Einsicht resultierende Mitgefühl wird daher von dem vielfältigen Leiden, die es in Lebewesen spürt, nicht entmutigt oder bedrückt, sondern bleibt sich vielmehr ihres Potentials für tiefe Freiheit von Leiden bewusst. So ein Mitgefühl hält nicht nur andere in ihrem dahinterliegenden Potential und stützt sie darin, sondern stellt auch Aspekte ihres Denkens und Handelns infrage, die ihr Potential verbergen (Aronson, 1986; Makransky, 2010).
Der Achtfache pfad
Mitgefühl wird deshalb implizit mit dem ganzen Prozess des Erwachens assoziiert, der sich dadurch entfaltet, das sich Achtsamkeit und Einsicht vertiefen, die im Achtfachen Pfad des Buddha als Rechte Achtsamkeit und Rechtes Verständnis bezeichnet werden. Mitgefühl wird also implizit mit den anderen sechs Faktoren in Beziehung gebracht, die in Gestalt des Achtfachen Pfades kultiviert werden: Rechte Gesinnung, Rechte Rede, Rechtes Handeln, Rechter Lebensunterhalt, Rechte Anstrengung und Rechte Konzentration. Rechte Gesinnung, geprägt von der Einsicht in Selbstlosigkeit, ist ein Denken, das von Habenwollen, Grausamkeit und bösem Willen weg zu Mitgefühl und Liebe gelenkt wird (Harvey, 2000). Dieses Denken ist die Kraft der Absicht, die Rechte Rede, Rechtes Handeln und Rechten Lebensunterhalt motiviert (Harvey, 2000; Rahula, 1982). Diese prägen wiederum die Art von Anstrengung, die man braucht, um diesen Pfad ganz zu gehen – der mitfühlende sanfte, Anteil nehmende Fokus auf disziplinierter Energie in Geist und Körper, die uns hilft, gesunde innere Zustände zu nähren und aufrechtzuerhalten. Rechte Konzentration ist die Kultivierung tiefer Ruhe durch fokussierte Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand der Meditation. Um diese Konzentration zu erreichen, lehrte der Buddha, neben anderen Gegenständen der Meditation, die Meditationen über Liebe bzw. Güte (mettā), Mitgefühl (karunā), Mitfreude (muditā) und Gleichmut (upekkhā) (Aronson, 1986, Anm. 6). Wenn diese inneren Zustände unparteilich und allumfassend in meditativer Konzentration kultiviert werden, werden sie zu den vier unermesslichen inneren Haltungen, von denen es heißt, dass sie dem Geist gewaltige Macht verleihen, Hindernisse zu überwinden, in Glück und Unbeschwertheit zu leben, den eigenen Fortschritt in allen Aspekten des Pfades zu unterstützen und in anderen das Potential für ähnliche innere Zustände zu erwecken (Aronson, 1986; Harvey, 2000).
Die vier unermesslichen inneren Haltungen
Vor dem Hintergrund solcher positiven Wirkungen hat der Theravāda-Buddhismus die Kultivierung der vier unermesslichen inneren Haltungen betont, die in Buddhaghosas klassischem Text Der Weg zur Reinheit (Buddhaghosa, 1975) systematisch erklärt wird. Hier ist Liebe (oder Liebende Güte) der offenherzige Wunsch, dass Lebewesen Glück und Wohlbefinden erleben. Er ist nicht zu verwechseln mit selbstbezogenem Anhaften oder mit dem Wunsch, jemanden besitzen zu wollen. Liebe unterläuft Tendenzen zu bösem Willen und Angst und wird deshalb als eine schützende Kraft für einen selbst und als ein schützender Einfluss auf andere charakterisiert.
Liebe
In der Kultivierung von Liebe durch Meditation, die Buddhaghosa beschreibt, wird der Wunsch für Glück und Wohlbefinden zuerst auf uns selbst gerichtet, da tiefe Selbstakzeptanz Bedingung dafür ist, dass man andere annehmen kann, die uns in ihrem Leiden und ihrem Wunsch, glücklich zu sein, gleich sind. Als Erstes rufen wir in uns positive Wünsche und Gefühle der Liebe und Akzeptanz für uns selbst wach, indem wir Sätze wie diese wiederholen: „Möge ich Wohlbefinden und Glück haben; möge ich frei von Feindschaft und Gefahr sein“ (siehe Kapitel 3). Wenn der Wunsch und das Gefühl der Liebe für einen selbst etabliert sind, dann ist es nur ganz natürlich, denselben Wunsch auch auf andere auszuweiten, wenn wir erkennen, dass andere auch glücklich sein möchten. Wir erweitern dann den Wunsch auf jemanden, der für uns sehr wichtig ist, wie ein besonders inspirierender Lehrer oder ein Mentor. Der Wunsch und das Gefühl der Liebe werden dann auf einen nahen Freund ausgedehnt. Wenn die Kraft der Liebe für solche lieben Wesen sich festigt, kann man sie auf Wesen richten, die uns weniger nahestehen: zuerst zu einer neutralen Person (zu jemandem, den man bisher als einen Fremden betrachtet hat, und der jetzt zum Ziel desselben Wunsches und des Gefühls der Liebe wird), dann zu jemandem, der sich uns gegenüber feindselig gezeigt hat. Zunehmend erkennen wir an, dass alle Lebewesen wie wir sind – würdige Empfänger von Liebe, egal, wie sie uns im Leben begegnen –, und weiten den Wunsch der Liebe fortschreitend auf sie aus, bis er buchstäblich alle Lebewesen im Universum einschließt. Dieser Fokus bringt unseren Geist in einen Zustand tiefer Versenkung, der mit einem Gefühl von etwas unermesslich Umfassendem, von Stabilität, Ruhe und Freude verbunden ist (Aronson, 1980; Harvey, 2000; Buddhaghosa, 1975; Salzberg, 2003). Diese Konzentration kann dann zu weiteren Ebenen meditativer Versenkung führen. Buddhaghosa war der Erste, der diese Praxis genau formuliert und systematisiert hat, die in Kapitel 3 (neben einer genauen Anleitung) als „Meditation Liebender Güte“ beschrieben wird.
Читать дальше