Den vielen hypoaktiven Kindern und ihren Familien, deren Leidensweg ich kennengelernt habe, widme ich dieses Buch. Durch die therapeutische Begleitung konnte ich erfahren, wie aus leidenden Kindern und genervten Familien fröhliche Kinder und glückliche Eltern wurden. Dieser Weg ist nicht einfach, er fordert Mut, Kenntnisse und Vertrauen. Er hat viele Hindernisse, aber er lohnt sich. Einen Weg zum besseren Verständnis des hypoaktiven Kindes möchte ich mit meinem Buch aufzeigen. Diesen Kindern wünsche ich Eltern, die nicht aufgeben, sondern die Kraft, Mut und die nötigen Kenntnisse aufbringen, sich von alten und neuen Vorurteilen zu trennen. Ich wünsche den Eltern, dass sie für diesen Weg Begleiter finden, es gibt sie.
Mainz, Oktober 2001 |
Dr. med. Helga Simchen |
1 Das hypoaktive Kind – was ist das für ein Kind?
Es ist viel zu langsam – es ist verträumt – es vergisst viel – ist zu empfindlich – weint leicht – ist leicht ablenkbar – kann sich nicht konzentrieren – es lernt fleißig – es vergisst das Gelernte schnell – es kann zu Hause alles, versagt aber in der Schule – es schreibt im Diktat zu Hause zwei Fehler, in der Schule aber zwanzig Fehler – es macht stundenlang Hausaufgaben – es verrechnet sich dauernd – es hat Probleme in der Rechtschreibung, beim Rechnen und im Aufsatz schreiben – es kann Textaufgaben nicht lösen – es schreibt den Aufsatz viel zu lang oder viel zu kurz – es ist von sich enttäuscht – es glaubt von keinem geliebt zu werden – es kann viel mehr, als es zu Papier bringt – es macht lauter Leichtsinnfehler – es hat eine schlechte Schrift – es kann nicht gut zeichnen – es hat eine gute bis sehr gute Intelligenz und erhält trotzdem schlechte Noten – es will nicht mehr in die Schule gehen – es lernt nicht aus Fehlern – es sagt gleich: »das kann ich nicht« – es gerät schnell in Panik – resigniert – es wünscht sich die Kindergartenzeit zurück – es verfällt in Babysprache – es spielt am liebsten allein oder mit jüngeren Kindern – es klagt oft über Bauch- oder Kopfschmerzen – es spricht nicht über sich und verschließt sich – es hat wenig Freunde – es kann sich nicht behaupten – manchmal möchte es am liebsten tot sein.
Dabei macht kein einzelnes Symptom die Diagnose, sondern eine Summe von mehreren wesentlichen Faktoren, vom Facharzt untersucht und ausgewertet, kann nach Ausschluss vieler anderer möglicher Ursachen auf die richtige Diagnose hinweisen.
Viele Erkrankungen wie Depressionen, Zwangskrankheiten, Angststörungen, psychosomatische Beschwerden, Persönlichkeitsstörungen und Essstörungen kommen erst im Jugend- und Erwachsenenalter zum Ausbruch, nach dem sie sich schon über viele Jahre innerlich aufgebaut haben.
In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte der Zusammenhang zwischen Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter und späteren psychischen Erkrankungen mehrfach nachgewiesen werden. Durch intensives Beschäftigen mit dem hypoaktiven Kind und seiner Problematik wird immer häufiger ein gemeinsames Auftreten von Lese-Rechtschreibschwäche und Rechenschwäche mit einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert. Leider ist dieser Zusammenhang noch viel zu wenig bekannt, so dass eine entsprechende wirksame Hilfe vielen Kindern vorenthalten bleibt.
Bei diesen hypoaktiven Kindern dominieren nicht so sehr die Verhaltensstörungen, sondern die Lern- und Leistungsstörungen, worunter sie seelisch leiden, bis hin zu einem erheblichen Leidensdruck mit negativem Selbstbild, was sie krank macht.
Vorwiegend Mädchen, aber auch Jungen, sind davon betroffen. Neben der Therapie der Lernstörung ist es vor allem wichtig, die psychische Situation dieser Kinder zu verbessern, um bleibende Schäden für das weitere Leben zu verhindern. Diese seelischen Folgen sind später gar nicht mehr oder nur unvollständig mit viel Aufwand zu korrigieren. Vor allem muss man frühzeitig die Diagnose stellen, um diesen Kindern zu helfen, ein gutes Selbstbewusstsein aufzubauen, das sie in der heutigen Zeit mehr denn je brauchen. Denn sie sind oft gut bis sehr gut intellektuell befähigt und spüren das auch. Sie haben aber Probleme, mit ihrem Arbeitstempo in der Schule mitzuhalten und am Unterricht teilzunehmen. Sie »triefen vor sich hin«, sind langsam, träumen und sind in Gedanken abwesend. Dabei gehen ihnen so viel wichtige Informationen verloren.
Die Fähigkeit zur Daueraufmerksamkeit und zur Konzentration besitzen diese Kinder, aber nur, wenn sie sich auf etwas ganz besonders konzentrieren und fasziniert sind.
Was die Ursache dieser Problematik ist und wie man diesen Kindern wirksam helfen kann, versuche ich in den folgenden Kapiteln zu erklären. Denn diese Kinder sind weder faul, dumm, fehlerzogen oder ungeliebt. Sie haben auch Eltern, die sich sehr um sie sorgen.
Es sind kluge Kinder, die fleißig lernen, aber trotzdem in der Schule versagen. Nicht selten droht ihnen eine Umschulung in die Lernbehindertenschule, wo sie – und das ist meine feste Überzeugung – nicht hingehören. Rechtzeitig behandelt sind sie lernmotiviert, glücklich und zufrieden über ihre neu erworbenen Fähigkeiten.
2 Das ADS ohne Hyperaktivität – Informationen auf einen Blick über Ursachen, Diagnose und Therapie
Zwischen dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität und dem ohne Hyperaktivität gibt es viele Varianten und Zwischenstufen im Erscheinungsbild. Diese haben jedoch die gleichen Ursachen und kommen nicht selten in ein und derselben Familie in verschiedenen Ausprägungen vor.
Der neueste Diagnoseschlüssel DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen) der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft teilt die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen ein in:
• einen Mischtyp
• einen vorwiegend unaufmerksamen Typ
• einen vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ
Die Symptome der Unaufmerksamkeit sind:
Das betroffene Kind
a) beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schulaufgaben, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
b) hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten
c) scheint häufig nicht zuzuhören, wenn es von anderen angesprochen wird
d) führt oft Anweisungen anderer nicht vollständig aus und kann Schulaufgaben, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen
e) hat oft Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
f) vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern
g) verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden
h) lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken
i) ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich
Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es sich beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom um eine Funktionsstörung im Stirnhirnbereich und einiger Nervenzentren, mit denen das Stirnhirn in Verbindung steht, handelt. PET- und SPECT-Untersuchungen (PET = Positronenemissionstomografie, SPECT = Single Photonen-Emissions-Computertomografie) haben gezeigt, dass bei ADS-Kindern das Stirnhirn wenig oder kaum Glucose verbraucht. Beides sind hochmoderne diagnostische Verfahren, die wegen der Kosten und dem Einsatz radioaktiver Substanzen nur der Forschung vorbehalten sind.
Das Prinzip dieser modernen Bildgebungsverfahren ist die Untersuchung des Zuckerstoffwechsels im Gehirn. Wenn das Gehirn arbeitet, verbraucht es Zucker, arbeitet es nicht, ist der Zuckerverbrauch minimal und kaum zu registrieren. Bei ADS-Kindern sieht man, dass das Stirnhirn und einige wichtige Hirnzentren kaum Zucker verbrauchen, auch dann nicht, wenn sie »arbeiten«. Erst die Gabe von stoffwechselanregenden Mitteln (Stimulanzien) aktiviert diese Zentren, so dass sie wie bei einem »gesunden« bzw. einem nicht betroffenen Kind funktionieren können. Ein typischer Befund bei allen ADS-Kindern.
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