GANIJEWA • VERLETZTE GEFÜHLE
ALISSA GANIJEWA
Verletzte Gefühle
Roman
Aus dem Russischen
von Johannes Eigner
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Lektorat: Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-458-1 (Print Ausgabe)
ISBN 978-3-99047114-2 (Epub)
Zweifelsohne gibt es heute schon nicht mehr jene feierliche, bange Haltung gegenüber der Denunziation wie früher.
Aleksandr Sinowjew, »Homo sovieticus«
So Glotzäugige.
Fjodor Sologub, »Der kleine Dämon«
Andrej Iwanowitsch Ljamzin: Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung
Ella Sergejewna Ljamzina: Schuldirektorin, Ehefrau Ljamzins
Marina Anatoljewna Semjonowa: Unternehmerin, Geliebte Ljamzins
Pjotr Iljuschenko: Pope
Lena (Lenotschka): Sekretärin Ljamzins
Viktor: Kriminalpolizist
Natalja Petrowna: Stellvertreterin Ljamzins
Nikolaj (Kolja): Angestellter in Semjonowas Firma
Tolja: Angestellter in Ljamzins Ministerium
Tanja: Haushälterin der Ljamzins
Kapustin: Oberstaatsanwalt
Katuschkin: Journalist
Sopachin: Geschichtelehrer in Ljamzinas Schule
Ernest Pogodin: Salonmaler
Tschaschtschin: Theaterdirektor
Ein Mann lief torkelnd im Nieselregen. »Der ist wohl betrunken«, dachte Nikolaj, »den schmeißt es ordentlich hin und her.« Die Straße verschwamm schon im Dämmerlicht, im Schein der unregelmäßig flackernden Lampen auf ihren Aluminiummasten. In der städtischen Beleuchtung ging allem Anschein nach das Quecksilber zu Ende. Ivan der Schreckliche litt an Quecksilbervergiftung, kam es Nikolaj plötzlich in den Sinn. Er behandelte seine Syphilis und rieb die Beine mit Quecksilbertinktur ein. Oder man rieb sie ihm ein? Am Bächlein, am Bächlein, an jenem Uferstückchen, wusch sich Marusenka die weißen Füßchen, mit wem warst du, Marusenka, die ganze Nacht unterwegs, mit wem, Ma…
Eine große Hand klatschte mit voller Wucht ans nasse Seitenfenster. Nikolaj ließ die Scheibe herunter: Es war eben jener Torkelnde. Teure Jacke, goldener Ring am Finger, ein durchaus solider, aber aus irgendeinem Grund aufgeregter Gesichtsausdruck. Betrunken ja, aber nicht einer aus der Gosse.
»Nimm mich mit, mein Freund!«, flehte der Mann mit unerwarteter Bass-Stimme, wobei er sich nervös über das vom Regen nasse Gesicht wischte.
»Schau ich etwa aus wie ein Taxifahrer?«, knurrte Nikolaj verdrossen.
»Es ist dringend, Bruder, sehr dringend! Ich zahl’ auch dafür!«
»War ich nicht deutlich genug? Ich bin nicht dein Kutscher!«
Die Ampel leuchtete grün auf, und hinten begann man ungeduldig zu hupen. Doch der sonderbare Mann legte sich mit seinem gesamten Elefantengewicht auf das Auto, ein Losfahren war nicht möglich.
»Hör zu, verschwinde von hier!«, schnauzte ihn Nikolaj an. Da zog der Unbekannte vor dessen Nase die Geldtasche hervor – feinstes Kalbsleder – und begann plötzlich Fünfhunderterscheine in das Wageninnere zu werfen. Das Geld fiel auf Nikolajs Schultern, auf sein rundliches Bäuchlein und flatterte irgendwo hin unter den Sitz. Hinter ihm auf der Straße ging das erboste Gehupe weiter.
»Geht’s noch?«, brummte Nikolaj in immer größer werdender Verzweiflung, und er entriegelte nach kurzem Zögern die hintere Tür. Der Mann ließ sich schwer atmend auf die Sitzbank plumpsen. Die Tür fiel ins Schloss, der Wagen fuhr stotternd los.
Nikolaj richtete den Rückspiegel ein, der dort hängende Rosenkranz kam in heftiges Baumeln. »In der Hand der Rosenkranz, im Kopf die Weiber ganz …«, huschte es Nikolaj unangebrachterweise durch den Kopf. In der regennassen Fensterscheibe spiegelte sich das angstvolle Gesicht des Passagiers.
»Wohin musst du überhaupt?«, erkundigte sich Nikolaj streng.
»Und du selbst?«, schreckte der Mann hoch.
»Ich muss ins Zentrum.«
»Ich auch. Aber mach bitte einen Umweg, machen wir eine Extra-Runde.«
»Bist wohl vor jemandem auf der Flucht, oder?«
Der Mann verstummte und stieß weiter kurze, heftige Atemzüge aus. Er roch, was verwunderlich war, überhaupt nicht nach Alkohol. Nikolaj starrte gedankenverloren auf die nasse Straße. Irgendwo hatte er gelesen, dass sich jede Minute sieben Prozent der Menschheit in betrunkenem Zustand befinden. Wie viele sind das insgesamt? Nikolaj legte die Stirn in Falten und schätzte. Fünfzig Millionen? … Wenn dieser schnaufende Alte tatsächlich einen sitzen hat, müsste man das ziemlich riechen. Vielleicht überdeckt das Kräutersäckchen, das seine Frau an der Windschutzscheibe angebracht hat, den Geruch. Ätherische Öle. Selbstgenähtes Aroma-Sachet. Unregelmäßige Stickerei.
Die Frau hat gesagt, das ist ein Gebrauchtwagen, das heißt, er ist von der Energie der früheren Besitzer verseucht. Da bedarf es eines Reinigungsrituals. Du hältst über der Motorhaube eine mit einem Geldschein entzündete Kerze, wenn auch nur mit einem Hundertrubelschein, Hauptsache, er verbrennt ganz, und du rufst laut: »Auf den Erfolg gezahlt!« Du gehst zwölf Mal im Uhrzeigersinn um das Auto herum, bläst die Kerze aus, wirfst den Stummel weit von dir, und die Sache ist erledigt.
Nikolaj sog den Lavendelduft ein.
»Haben Sie das gehört?«, er wandte sich an den Passagier, den er auf einmal mit »Sie« ansprach. »Vor kurzem hat mir ein Kollege erzählt, dass die Ameisen, also wissen Sie, die Ameisen sich über den Geruch verständigen.«
»Hm, was?«, rührte sich der Mann auf dem Hintersitz.
»Die Ameisen, habe ich gesagt. Die haben Pheromone. Und wenn nun eine Ameise stirbt, so bleiben diese Pheromone noch eine Weile erhalten, und, stellen Sie sich vor, die übrigen Artgenossen plaudern mit ihr noch eine Woche. Sie glauben, sie lebt noch. Und wenn man umgekehrt auf eine lebende Ameise Fäulnisgeruch sprüht, so als ob sie schon in Verwesung begriffen wäre, dann ist es aus mit ihr. Sie wird zu Grabe getragen.« Nikolaj schmunzelte. »Die Arme wehrt sich dagegen, will zurücklaufen in den Ameisenhügel, aber zack, sie wird erneut gepackt und zur Beerdigung geschleppt. Unglaublich, was? Dass so was möglich ist!«
Der Passagier begriff anscheinend, worum es ging, und nickte zustimmend. Er schnaufte noch immer und griff sich in Brusthöhe an seine modische Jacke.
»Ich wusste nicht, dass es bei Ameisen Beerdigungen gibt.«
»Die haben wahrscheinlich auch ihren Leichenwagen, das würd’ mich nicht wundern«, grinste Nikolaj. Es erheiterte ihn auf einmal, dass er ohne jeden Hintergedanken, einfach so unversehens den Passagier am Haken hatte. »Und warum haben Sie nicht ›Uber‹ genommen?«
»Uber … Uber … damit die nachverfolgen können, wohin und woher? Nein, mir reicht es.«
»Wer ist denn hinter Ihnen her?«
Der Mitfahrer jedoch zog sich wieder in sich zurück und schwieg.
»Ein jeder hat seine Ängste«, sinnierte Nikolaj laut vor sich hin. »Manche haben Angst, das Telefon zu Hause zu vergessen. Meine Tochter ist so eine. Das hat sogar eine eigene Bezeichnung. Ich hab’s vergessen. Irgend so eine Phobie. Es gibt Angst vor Mikroben. Vorm Altern. Vor Maulwürfen, Flugzeugen, Gold, Blindheit. Angst davor, an Krebs zu erkranken, in Scheiße zu treten. Zu heiraten. Sich zu verlieben. Leute anzufurzen. Vor einer Menge im Rampenlicht zu stehen. Vor Ärzten, der Schwiegermutter, dem eigenen Spiegelbild. Vor Läusesucht, Strahlung, AIDS, Terroristen. Einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen, ein Haar im Abendessen zu finden. Vor Clowns, Computern, Zugluft. Mundgeruch. Leeren Räumen. Tunnels, Höhe, Wasser, Geld, Medikamenten. Bösen Geistern …«
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