Mit den ersten politischen Artikeln erscheinen auch die ersten Gedichte. „Siegfried von Vegesacks zarte, leise und manchmal auch etwas spöttische Verse haben einen Unterton von versteckter Müdigkeit und überwacher Verträumtheit: Sie verbergen viel und verkleiden es mit seltsamen Masken“, urteilt Bruno Goetz in seinem Vorwort zu der Anthologie „Die jungen Balten“ (1916). Auch die ersten großen literarischen Arbeiten, die Vegesack schreiben wird – expressionistische Theaterstücke mit solch programmatischen Titeln wie „Die tote Stadt“, 1923 in Cottbus (ungedruckt), und „Der Mensch im Käfig“, 1926 in Prag mit Paul Hörbiger recht erfolgreich uraufgeführt – stehen noch ganz unter dem Einfluß seiner Berliner Zeit.
Im vorletzten Kriegsjahr verläßt die junge Familie Berlin und siedelt in den Bayerischen Wald über, wo der Dichter 1918 mit dem Geld seiner Schwiegermutter für 1800 Reichsmark jenes mittelalterliche Gemäuer erwirbt, das ihm zur neuen Heimat wird: seinen „Turm“, den ehemaligen Getreidespeicher der Burgruine Weißenstein oberhalb von Regen. Hier wird er fast fünfzig Jahre wohnen, hier schreibt er den Großteil seiner Werke. Im selben Jahr erlangt er die deutsche Staatsbürgerschaft. – „Nach dem grauenhaften Emigrantendasein in der Stadt, im Büro, auf fremden Gütern, ist hier dieses Leben gerade das richtige für mich! Die meisten wollen sich ja gar nicht hier in Deutschland einleben, sie hoffen auf das alte Rußland, sie sitzen zwischen zwei Stühlen in der Luft. Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder man bleibt in der alten Heimat, ordnet sich dort in die neuen Verhältnisse ein, oder man kommt nach Deutschland und wird hier nicht nur auf dem Papier Reichsdeutscher!“ läßt er den baltischen Baron Kai von Torklus, die stark autobiographisch gefärbte Hauptfigur seines ersten Romans, später sagen. Aber noch 1923 muß er sich gegen die Behauptung, er sei „kein Deutscher“, die über ihn in Regen im Umlauf ist, verteidigen: „Ich bin Deutsch-Balte von Geburt, d. h. ein Deutscher, der von Kindheit an für sein Deutschtum gegen die Russifizierung kämpfen und leiden mußte. Schon als Gymnasiast habe ich mich als Einziger meiner Klasse geweigert, die vom russischen Geschichtslehrer verlangte Erklärung ‚Ich bin ein Russe‘ niederzuschreiben, und bin deshalb den größten Schikanen und erbittertsten Verfolgungen von Seiten des russischen Lehrerpersonals ausgesetzt gewesen, ebenso auf der Universität. Während des Krieges habe ich mich am großen deutsch-baltischen Liebeswerk für die deutschen Kriegsgefangenen, das von der russischen Regierung streng verboten war, beteiligt und habe unter Lebensgefahr Briefe der aus Ostpreußen nach Sibirien verschleppten deutschen Zivilgefangenen über die Grenze in die Deutsche Gesandtschaft nach Stockholm gebracht […] und bin dann im Sommer 1917 nur in Folge monatelanger, durch die Berliner Unterernährung mir zugezogener schwerer Krankheit daran verhindert worden, als Freiwilliger die Ostoffensive mitzumachen“ (Schreiben vom 27. 4. 1923 an Dr. Hock).
Auch sonst ist sein Leben im Bayerischen Wald keineswegs idyllisch. Als Kleinstlandwirt und Selbstversorger muß er sich um Haus und Stall, Wiesen und Felder kümmern: „Und im Winter, wenn es nur Holz zu hacken gab“, erzählt er, „fing ich an zu schreiben.“ Der Dreißigjährige entscheidet sich für ein Leben als freier Schriftsteller. Niemals habe er „wegen des Geldes oder der Pension“ einen Beruf ergreifen wollen, bekennt er 1968 in einem Interview: „Wenn man mir so etwas anbieten würde – ich komme ja auch ab und zu in solche Käfige, in denen Menschen arbeiten, in Büros –, dann würde ich ablehnen.“ Seine Devise lautet: „Lieber ein hungriger Wolf sein als ein fetter Kettenhund.“
Anfangs leben die Ehepartner vor allem von ihren Übersetzungen: Aus dem Russischen überträgt der Sprachbegabte vor allem Gogol, Nabokow und Turgenjew, daneben u.a. Gedichte August Strindbergs aus dem Schwedischen, das er von seiner Frau gelernt hat. Immer wird er ein Leben der Bedürfnislosigkeit, längere Strecken hindurch gar der Armut führen. Als ihm nach seinem Theatererfolg ein Kölner Zeitungsverlag das hochdotierte und angesehene Amt des Chefredakteurs anbietet, lehnt er ab – er zieht die Freiheit seiner ‚Waldeinsamkeit‘ vor.
Als Aussteiger wird Vegesack bezeichnet, als Naturapostel, und bisweilen auch als weltfremder Eremit. Mit dieser Perspektive kokettiert der Dichter in seinem Lyrikband „Die kleine Welt vom Turm gesehen“ (1925). „Hab keinen Kalender und keine Uhr, / keine Zeitung dringt in mein Haus. / Sonne und Mond und Sterne nur / kommen und gehen tagein und tagaus“ – so beginnt das „Lied des Zeitlosen“, das er besonders liebte und immer wieder vortrug. Weitere Gedichtbände mit lyrisch-idyllischen und humoristischironischen Versen und Lebensweisheiten in der Nachfolge eines Morgenstern oder Ringelnatz werden folgen: so seine „Kleine Hausapotheke“ (1944), „Schnüllermann sieht das Leben heiter an“ und „In dem Lande der Pygmäen“ (beide 1953). Letzteres, ein Reich reiner Menschlichkeit und voller „Liebes-Lauben“, wo nicht die Keulen der „großen Schlag-Worte“, „sondern nur die Sag-Worte“ etwas zu sagen haben, läßt Vegesack in die Traumgefilde glückseliger Inseln entschweben und Thomas Mann ausrufen: „Das ist ja ein erstrebenswertes Land, Ihr Land der Pygmäen! O, wüßt ich nur den Weg dahin, drei Tage wollt ich wandern.“ – Auch mit Unterhaltungsromanen nach dem Vorbild seiner Frau wie „Liebe am laufenden Band“ (1929) und mit Kinderbüchern wie „Spitzpudeldachs“, seinen „Tiergeschichten aus dem Bayerischen Wald“, die er sich zusammen mit seinem 1923 geborenen Sohn Gotthard in den Sommerferien 1936 an der Ostsee ausdenkt, macht er sich einen Namen.
Vegesacks Wahlheimat ist in den zwanziger Jahren noch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Der Familienvater indessen will seinen Strom selbst produzieren – was bei den Weißensteinern auf wenig Verständnis, noch weniger auf Unterstützung stößt. Um seinen Traum zu verwirklichen, stürzt sich der Dichter in exorbitante Schulden: 1924 kommt es zum Bau des legendären Windkraftwerkes. Seine Burg wird zum Modell einer autarken Aussteigerexistenz.
Doch die Renovierungsarbeiten nehmen kein Ende. Viele Künstlerfreunde sind bei dem so gar nicht antiquierten Adligen zu Gast, darunter Werner Bergengruen, Hans Carossa, Erich Mühsam, Ina Seidl, Reinhard Koeppel, Max Unold und immer wieder Alfred Kubin. Einer von ihnen, der Schriftsteller und SDR-Redakteur Werner Illing, beschreibt die in der damaligen Mühsal liegende Herausforderung, die Vegesack zum ernsthaften Romanautor macht: „Der Kampf mit dem Haus begann, er dauerte viele Jahre, bis endlich der Dichter den Turm dadurch in die Knie zwang, daß er ihn selbst zum Gegenstand eines literarischen Vorwurfs machte: das fressende Haus wurde zum Roman, zum ersten Roman, den Siegfried von Vegesack schrieb. Und weil der Roman erfolgreich war, half er die Löcher stopfen, die das Haus in den mageren Geldsäckel des Dichters gefressen hatte.“
Verherrlicht hat er das Aussteigerdasein nicht: In seinem Roman „Das fressende Haus“ (1932) erzählt er von einem baltischen Emigranten, der einen alten Turm im Bayerischen Wald erwirbt, jedoch in allen weiteren Unternehmungen scheitert. Als er alles Erworbene, sogar die geliebte Frau im Kindbett verliert, begreift Kai von Torklus, daß man nur das, „was man im Herzen bewahrt, wirklich besitzt“ – die für Vegesack vielleicht grundlegendste Erkenntnis. Sechs Verlage, darunter ein englischer (1936), werden das neben seiner baltischen Trilogie erfolgreichste Werk immer wieder auflegen, zuletzt 1978. – Isabel, Vegesacks Tochter, ist bereits 18 Jahre alt und gerade auf einer Italienreise unterwegs, als ihr der Vater im November 1935 folgenden Lagebericht aus Weißenstein gibt: „Hier gibt es ja schließlich auch einiges Schöne zu sehen, was es auf Capri bestimmt nicht gibt: dicker Dreck, Nebel, Regen. […] der Tee ist gefroren, man muß die Kruste mit dem Löffel durchschlagen, und das Wasser in der Waschschüssel ist gefroren, und die Zahnbürste hat Rauhreif, und die Handtücher sind wie aus Blech, und von der Decke rieselt der Kalk, manchmal fliegen einem auch angefaulte Asseln und klebrige Herbstfliegen auf den Kopf, auch Spinnen, und es zieht durch das ganze Haus, weil die Türen nicht zugehen oder kaputt sind, und auch die Fensterscheiben sind kaputt, und die Fensterstöcke angefault, und der Fußboden bricht überall ein, man bleibt mit dem Fuß zwischen den Brettern stecken, und das Treppengeländer wackelt, und wenn man im Dunkeln hinaufgeht, knallt man mit dem Knie gegen den Treppenabsatz, und wenn man anknipst, brennt das Licht nicht, weil es ausgeschaltet ist, und wenn es eingeschaltet ist, geht die Sicherung durch, und wenn die Sicherung durch ist, dann wird so lange herumprobiert, bis es Kurzschluß gibt und überhaupt keine Lampe brennt, und dann sitzt man im Dunkeln, d.h., wenn man sitzen kann und nicht vom Wind, der von unten weht, fortgeblasen wird.“
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