In Yukikos Schlafzimmer brannte noch Licht. Ob sie Besuch hat?, fragte er sich. Bisher hatte er noch nie einen Besucher registriert. Seine spätnächtlichen Gedanken hatten etwas Besitzergreifendes, morgen würde er sie fragen.
Um 9 Uhr vormittags hörte er Geräusche im Stiegenhaus, er öffnete seine Wohnungstür, vor ihm stand Yukiko. Ob es ihn störe, wenn sie ausnahmsweise vormittags übe.
Nein, antwortete er, und wiederholte, nein. Aber er würde sie gerne auf einen Tee und an einem der kommenden Abende in sein Lokal einladen. Dabei sah er sie erstmals näher an. Sie hatte einen seidenen roten Hausanzug an und er bemerkte, dass sie barfuß vor ihm stand. Das mache sie zu Hause immer, erklärte sie, da sie seine erstaunten Blicke registriert hatte.
Tee nein, sagte sie dann, aber abends würde sie gerne kommen. Fast hätte André einen Freudenschrei ausgestoßen.
20 Uhr?, fragte er.
20 Uhr, antwortete sie.
Dann beschrieb er ihr den Weg. Wenig später lauschte er der Klaviermusik, die aus dem zweiten Stock kam. Die Musik kam ihm bekannt vor, mein Gott, rief er aus, warum bin ich so ungebildet? Dann dachte er an das Abendmenü. Er musste umdisponieren. Er hatte in einem Gastronomiefachmagazin gelesen, auf japanische Teller müsse Gemüse. Und während Yukiko spielte, fielen ihm ein: Okra, Ginkgo, Wasabi, Fushimi, Lotuswurzel, Satoimo-Knolle. Und da er selbst in der Großstadt, in die er augenblicklich aufbrach, Kobe-Beef nicht bekommen würde, dachte er an ein Filet vom Milchlamm. Und zum Abschluss ganz, ganz feine Pralinen. Er lachte. Heute Abend, sagte er immer wieder, heute Abend.
Schon am frühen Nachmittag war er alleine im Lokal, probierte alles, was er erstanden hatte, zuerst roh, dann gekocht, frittiert, mischte einmal Olivenöl, einmal Weißwein darunter, würzte mäßig und fand, dass sich dieses besser als Vorspeise, jenes als Hauptspeise eigne. Seine inzwischen eingetroffene Küchengehilfin sah ihn erstaunt an, die Zutaten kenne sie nicht, die würden die Gäste ablehnen, verschrecken, mein Gott sagte sie, was tun Sie?
Sie möge kosten, schlug er ihr vor.
Vorsichtig nahm sie eine Gabel und kostete von jeder Speise. Ganz wenig. Großartig, rief sie aus, grandios! Sie nehme ihre Kritik zurück. Er sei ein Zauberer. Aber sie habe jetzt ein Problem.
André sah sie an.
Das Problem sei: Kaum habe sie die Distanz zu seiner Kochkunst um einen Meter verkürzt, vergrößere sich der Abstand am nächsten Tag um zwei. Woher er seine Inspiration, sein Feuer nehme?
Zufall, sagte er und zerlegte das Wort in ZU- und FALL. Es sei ihm zugefallen.
Durch wen oder was?, fragte die Küchengehilfin.
Das bleibe zumindest vorerst sein Geheimnis.
Drogen!, rief sie.
Ja, antwortete André. Es sei eine Droge, die er täglich konsumiere.
Paola hatte die letzten Sätze des Gesprächs mitangehört. Sie glaube, und damit gab sie dem Gespräch neuen Schwung, sie glaube, er, André, genieße die Zuneigung einer Frau, die beflügle ihn.
André lachte, sah auf die Uhr und mahnte die weiteren Vorbereitungen ein. Einen Platz an der Theke möge man für einen ausländischen Gast, eine Japanerin, reservieren. Vielleicht werden in Zukunft sogar mehr asiatische Gäste in unsere Stadt kommen, sagte er.
Das Lokal füllte sich, André sah öfter als sonst auf die Uhr. Er hatte Paola gebeten, ihn beim Eintreffen der Japanerin zu rufen. Paola sah ihn an. Eine Japanerin, sagte sie leise und lächelte. Und dann sagte sie noch: Vielleicht eine Geisha.
Zehn Minuten nach acht Uhr betrat Yukiko das Lokal. Als ob André es geahnt hätte, stand er in diesem Augenblick in der geöffneten Schwingtüre, die Küche und Gastraum verband. Er begrüßte Yukiko, er freue sich, und führte sie zu ihrem Platz an der Theke. Sobald es seine Arbeit in der Küche erlaube, werde er ihr Gesellschaft leisten.
Yukiko bestellte bei Paola, die sie, so oft es ihre Arbeit zuließ, ansah, ein Glas Wein. Dann brachte ihr Paola den ersten Gang. Selbst Paola musste schlucken und den Duft der Speise kräftig einatmen. Sie sah André an und verdrehte die Augen. Nach zwanzig Minuten folgte die Hauptspeise. Das Milchkalb und ein buntes Gemüsepotpourri. Die Gäste kosteten, André kam aus der Küche, erläuterte Fleisch und Beilagen und wünschte guten Appetit.
Er habe sich wieder ausgezeichnet, riefen ihm einige Gäste zu. Sie glaubten nicht, dass es weitere Steigerungen gebe. Er winkte ab. Alles sei Zufall, dabei lachte er und setzte sich neben Yukiko.
Natürlich kenne sie die eine oder andere Beilage, aber was es ausmache, sei die Komposition.
Komposition, wiederholte er. Ja, die Komposition, dabei dachte er an Yukikos Klavierstunden.
Sie bitte ihn um einige Blätter Papier und um einen Stift, sagte Yukiko.
Ob sie die Speisen notieren wolle, fragte André, die Komposition?
Yukiko lächelte ihn an. Komposition sei richtig. Dann fing sie an, Noten zu schreiben, die kleine Welt um sie versank. Die anderen Gäste verabschiedeten sich nach und nach, auch Paola meinte mit einem Augenzwinkern, sie würde heute Abend nicht mehr gebraucht werden. Dann waren Yukiko und André allein. André zündete sich eine Zigarette an und beobachtete sie. Sie schrieb und summte, sah zur Zimmerdecke und auf das Blatt vor ihr. Wein, bat sie.
Eine Stunde nach Mitternacht hielt sie mehrere Blätter Papier in die Höhe. Sie habe das noch nie erlebt, sagte sie zu André. Beim Verzehr der Speisen habe sie plötzlich eine Melodie im Kopf gehabt, nicht nur eine Melodie, eigentlich ein ganzes Musikstück, das sei ihr wirklich noch nie passiert, es war wie ein Zwang, als ob jemand ihre Hand, den Bleistift führe. Sie würde sich zu Hause sofort ans Klavier setzen und ihre Arbeit fortsetzen.
André sah sie an. Er müsse ihr etwas gestehen, sagte er. Sobald er ihre Musik höre, ihrem täglichen Klavierspiel lausche, sehe er vor seinem geistigen Auge ihre Hände über das Klavier tanzen, dann greife er zu Papier und Bleistift und kreiere, ja man könnte ohne Weiteres auch sagen, dass er seine neuen Speisen, seine Zutaten komponiere. Er wage sich an neue Produkte, kombiniere viel gewagter als je zuvor und alles, was ihm unter dem Einfluss ihres Klavierspiels einfalle, gelinge fabelhaft, seine Küchengehilfin, eine äußerst begabte Schülerin im Übrigen, habe sogar gemeint, er koche neuerdings wie ein Zauberer.
Yukiko lachte. Dann sieht es ja so aus, als ob ich deine und du meine Muse wärst, sagte sie und küsste ihn.
André mahnte zum Aufbruch. Hand in Hand gingen sie nach Hause.
Vor seiner Wohnungstür sagte Yukiko: Zwei Musen wünschen sich eine Gute Nacht, gab ihm noch einen Kuss und lief die Treppen hoch. Diese Nacht sei der Musik gewidmet, dem Präludium, rief sie ihm zu.
Paola rief am nächsten Tag recht früh an. Und, fragte sie, neue Liebe, neues Glück?
André verneinte.
Schade, antwortete Paola, sie glaube, Yukiko stecke hinter seinen Speisen-Kompositionen, dann beendete sie das Gespräch.
André sah beim Fenster hinaus und beobachtete Tauben beim Turteln. Und dann fiel ihm das Wort Präludium ein. Vorspiel. Er war sich augenblicklich sicher, Yukiko habe dieses Wort nicht nur seiner musikalischen Bedeutung nach erwähnt. Er fühlte sich, als ob Tausende Glückstaler vom Himmel fielen.
André musste unbedingt wieder in die Großstadt, frische Feigen, Ziegenweichkäse, Oliven vom Griechen, auch wenn es verdammt spät für den Großmarkt war, Schalentiere sollten abends auf die Tische der Gäste, beim Sarden Wein, diesen herrlichen Vermentino.
Mit ihm, dem Weinhändler Leonardo, trank er einen Espresso. Bist du verliebt?, fragte er André.
André lächelte und nickte. Schwer, ergänzte er und bestellte für sich und Leonardo zwei Grappa. Sie beflügelt mich, sagte er, ich experimentiere, kreiere Neues, und alles gelingt.
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