Elvira hatte längst gemerkt, dass Aufmucken sich überhaupt nicht lohnte. Einen Augenblick lang hatte sie daran gedacht, zu Lie-San zu laufen. Aber er würde ihr auch nicht helfen können.
So stand sie mitten im Zimmer und blickte ihn starr an.
»Eines Tages wirst du dafür bezahlen müssen«, sagte sie kalt. »Eines Tages wirst du dich an mich erinnern und dich selbst verfluchen.«
»Hau endlich ab! Sonst nehmen sie dir die fetten Fische weg, und du hast dann das Nachsehen.«
Als sie auf der Straße stand, sah sie Lola und Anke unter der Laterne stehen. Langsam kamen sie näher geschaukelt. »Albert hat mit uns gesprochen. Ich kann dir sagen: Es ist ein Mist. Jetzt auch noch du! Je mehr stehen, umso schrecklicher ist das. Ich meine das Soll. Der Hafen wimmelt nur so von Huren. Und wie die Kerle mal sind, die suchen sich ihr Mädchen aus. Ich kann dir sagen: Wenn du ein paar Matrosen erwischst, musst du auch mal mit Prügeln rechnen. Die sind wirklich gemein. Komm jetzt mit, sonst bilden sich die anderen ein, wir kämen heute nicht.«
Sie sahen noch verkommener und älter aus als damals, als sie die beiden in der Küche kennengelernt hatte. Und Elvira wusste, wenn sie dieses Leben mitmachte, dann würde sie bald genauso aussehen wie die beiden.
Ihr Magen drehte sich, und als sie dann unten an den Docks stand und sah, wie sich die Dirnen um die Kunden rissen, sich beinahe gegenseitig die Schädel einschlugen, da ekelte sie das so an, dass sie um die Ecke gehen musste und sich erbrach. Ihre Beine zitterten, sodass sie sich eine ganze Weile an den Schuppen lehnen musste.
Nein, das würde sie niemals können! So nahm sie in der ersten Nacht keinen Pfennig ein. Lola und Anke hatten ihr Soll mühsam erfüllt und schleppten sich gegen Morgen mehr tot als lebendig zur Kneipe zurück. Und Elvira dachte: Jetzt müssen sie das so schrecklich verdiente Geld Albert abliefern. Sie behalten nicht einmal einen Pfennig für sich. Ich verstehe die Mädchen nicht. Warum tun sie das nur? Wenn sie das Geld behalten und selbst Essen und Unterkunft bezahlen würden, dann bliebe noch was übrig, auch so etwas wie ein Selbstgefühl. Dann verstehe ich noch, wenn sie sich so anstrengen. Aber dies hier ist gemein und entwürdigend.
Als Elvira Albert sagte, sie hätte nichts verdient, denn sie wäre gar nicht dazu gekommen, sah er sie kalt an und sagte nur: »Wenn du morgen dein Soll nicht erfüllst, dann lernst du mich erst mal richtig kennen.«
Sie konnte es doch nicht! Gequält schlich sie sich nach oben und stand lange am Bettchen ihres Kindes. Sie wollte ja schuften, alles tun was er von ihr verlangte, aber nicht auf den Strich gehen. Das konnte er nicht verlangen.
Aber Albert ließ nicht mit sich reden. Er jagte sie auch am nächsten Abend hinaus.
Elvira wurde fast verrückt vor Angst und Ekel. Und dann dachte sie an den kleinen Knaben der jetzt allein in der Kammer schlief, und wenn er jetzt wach wurde und weinte und ein Fläschchen brauchte, wenn er spuckte. Bei einem so kleinen Kind musste man doch immer sofort zum Bettchen laufen, wenn es sich regte.
Sie stand an der Schuppenwand gelehnt, sah wieder dieses grässliche Schauspiel der sich schlagenden, beißenden Nutten, sah die Matrosen wie sie sich lustig über die Dirnen machten, sah auch, wie die Dirnen von den Matrosen betrogen wurden. Erst versprachen sie ihnen das Blaue vom Himmel, nahmen sie mit auf ihre Pötte, und nachdem die ganze Mannschaft über sie hergefallen waren, wurden sie mit Prügel fortgejagt. Heulend und fluchend versuchten sie nun die Zeit, die sie damit vergeudet hatten, wieder einzuholen. Aber je heller es wurde, umso weniger Kunden tauchten noch auf. Und wer in dieses Viertel kam, der wollte höchstens für fünf und zehn Mark eine Nummer schieben. Waren doch auch immer ziemlich abgebrannte Heinis.
Elvira hatte wieder nichts eingenommen. Und Albert nahm sie und prügelte sie windelweich. Den ganzen Tag wusste sie nicht, wie sie sich hinsetzen sollte. Wenn sie das Kind im Arm hielt um ihm die Flasche zu geben, dann hätte sie vor Schmerzen aufschreien mögen.
Instinktiv wusste sie, dass sie dieses Leben nicht lange ertragen konnte. Sie war ja jetzt schon am Zerbrechen. Albert kannte keine Gnade, und sie würde das verlangte niemals tun können.
Albert hasste sie und wollte sie bewusst vernichten. Sie dachte an das Kind. Aber sie konnte so wenig für Patrick tun! Vielleicht, so sagte sie sich, wird er für ihn sorgen, wenn ich nicht mehr da bin. Er muss es ja, denn er ist der Vater. Er kann ihn nicht abschieben wie mich. Das werden die Behörden schon nicht zulassen.
Ich bin für Patrick das Unglück, ich selbst. Nur wenn ich nicht mehr da bin, wenn er größer geworden ist und erfährt, was sie hatte tun müssen; wie grausam der eigene Vater zur Mutter war. Nein, er würde es gewiss nicht ertragen.
Elvira hatte einen Entschluss gefasst. Das Herz wollte ihr dabei zerbrechen. Aber sie wusste jetzt, dass sie alles bezahlen musste. Alles! Nichts war ihr geschenkt worden.
Als sie an diesem Abend von Albert auf die Straße geschoben wurde, hatte sie kurz vorher für immer von Patrick Abschied genommen. Sie wusste, sie würde ihr Kind nie mehr wiedersehen.
Mit den beiden Hafendirnen Lola und Anke ging sie hinunter zur Unterelbe. Die Kähne lagen am Kai. Leise schaukelten sie hin und her und rieben ihre großen Leiber an der Steinmauer. Elvira sah hinauf zum Himmel. Kein Stern war zu sehen.
»Lieber Gott, verzeih mir«, flüsterte sie leise.
»Haste was gesagt?« Lola schaute sie mit schräg geneigtem Kopf an. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, so versuch wenigstens ein paar Flöhe zu verdienen. Sonst schlägt er dich noch tot.«
»Das wird er nicht mehr können«, sagte sie leise.
»Da kennst du Albert schlecht.«
Elvira antwortete: »Doch, ich lass mich von ihm nicht mehr quälen. Nie mehr!«
»Na, das Rezept möcht ich wissen«, sagte die verlebte Dirne lachend. »Ich hab schon ’ne Menge versucht, aber der Kerl hat einen Bund mit dem Teufel. Der lässt nicht locker. Erst wenn du kein Blut mehr in den Adern hast, wirft er dich weg. Aber dann bist du auch zu nichts mehr nütze. Ich rate dir, Kleine, mach ihn nicht wild. Ich kann ein Lied davon singen.«
Elvira dachte: Was rede ich noch mit der Dirne? Ich weiß doch, was ich tun muss. Worauf warte ich noch? Wenn ich jetzt noch länger warte, habe ich keinen Mut mehr. Ich bin am Ende.
Und dann geschah alles sehr schnell. Die anderen hörten Lola wie wild kreischen, und die Dirnen kamen aus allen Ecken angelaufen:
»Was ist denn los? Wollte dich einer abmurksen?«
Lola stand mit weit auf gerissenen Augen unter der Laterne und starrte auf die Elbe. Sie keuchte und zitterte zugleich.
»Da, da!«, kreischte sie los. »So tut doch etwas. Die ersäuft doch!«
Anke schüttelte sie hin und her.
»Was faselst du? Red deutsch, wir verstehen kein Wort.«
»Verflucht, die ertrinkt doch! Die Elvira, sie hat sich einfach in die Elbe geworfen.«
»Wo, wo, wo?«
Alles rannte zur Kaimauer.
Der Mond schob sich hinter einer dicken Wolke hervor. Und jetzt sahen auch die Dirnen einen hellen Fleck auf dem schmutzigen Wasser. Einige bekreuzigten sich.
»Sie hat nicht aufgepasst!«
»Nein, die ist reingesprungen!«, heulte Lola auf.
»Herrje, wir müssen was unternehmen!«
Aber die Dirnen liefen wild durcheinander. Und bis man endlich die Hafenpolizei benachrichtigt hatte, verging geraume Zeit. Aus der Ferne hörten sie einen Motor und die Polizeijacht kam näher.
Wild mit den Armen um sich rudernd, erklärte jede einzelne Dirne, wo Elvira verschwunden war. Mit Haken suchte man nach ihr. Und sie bekamen sie auch sofort zu fassen, was wirklich ein kleines Wunder war.
Elvira war tot.
»Kennt jemand die Kleine?«
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