Diese Transformationen einer ursprünglich jüdischen Bewegung in eine neue Weltreligion liegen wie Schichten auf den im Neuen Testament bezeugten Ereignissen und sind als Interpretamente wirksam. Und sie prägten sich umso mehr ein, als man die Schriften des Neuen Testaments fortan als historische Tatsachenberichte las. Für mich ist es spannend, dass man diesen Transformationsprozess, wenn auch nur in Ansätzen, rekonstruieren kann, weil sich damit einerseits das Prozesshafte des Glaubens darstellen und andererseits bestimmte dogmatische Geltungsansprüche relativieren lassen. Man hat diesen Ansatz beim historischen Jesus bereits in der neutestamentlichen Leben-Jesu-Forschung im 19. Jahrhundert verfolgt, aber auch bald wieder verworfen, weil man meinte, man könne keine Grundierung hinter all den Übermalungen ausfindig machen. Entweder das Bild, wie es ist, oder kein Bild. Das sehe ich anders. Ich finde, dass das Abheben der eindeutigen Schichten christlicher Bekenntnisbildung zu einem jüdischen Menschen führt, der mit seinem Glauben, seinem Wirken und seinem Sterben eine Bewegung ausgelöst hat, die bis heute Zulauf findet. Man kann sich an den Rabbi aus Nazareth erinnern, wie er in seinen Gleichnissen, Seligpreisungen, seinem Gebet, in der Tischgemeinschaft mit „Sündern und Zöllnern“ und durch seine heilende Zuwendung zu Kranken und Armen seinen Glauben lebt und verkündigt – einen Glauben, der durch die Erinnerungsgeschichte des Christentums hindurch bis heute für viele Menschen ein Schlüssel zur Sinngebung im eigenen Leben geworden ist.
Inzwischen hat sich die neutestamentliche Forschung zum dritten Mal der Frage nach dem historischen Jesus (Third Quest) gestellt. Ein wesentlicher Ertrag ist diesmal die Erkenntnis des jüdischen Kontextes, in dem Jesus und die frühe Nachfolgegemeinschaft sich bewegen. Ein zweites Ergebnis besteht darin, dass jede Form der Erinnerung, auch die an den historischen Jesus, von den Vorstellungen und Interessen dessen geleitet wird, der sich erinnern will. Auch der geschichtliche Jesus bleibt dem hermeneutischen Zirkel der Interpretation verhaftet. Liegt in dieser Einsicht nicht auch ein gutes Stück Freiheit beschlossen, den eigenen Formen des Erinnerns zu vertrauen? Wer ist Jesus Christus für uns heute? Mit dieser Frage begann Dietrich Bonhoeffer 1933 in Berlin seine Vorlesung über Christologie, der Lehre von Christus. Wir können dabei auf das Erinnerungsgeflecht der ersten Christen nicht verzichten und quasi einen Standpunkt außerhalb einnehmen. Aber man hat den Glauben auch nicht vorliegen wie einen Keks in der Schachtel. Vielmehr lässt sich die Erinnerung nur zusammen mit ihren Ausdrucksund Überlieferungsformen öffnen, indem wir diese geschichtlich ergründen, sie übersetzen und interpretieren – und damit allererst verstehen und so für uns entscheiden, welcher der Spuren wir folgen, die der Mann aus Nazareth in den biblischen Zeugnissen hinterlassen hat. So ist christliche Existenz im besten Sinne eine Spurensuche. Das ist für mich aufgeklärter Glaube, ob man dabei die Botschaft des Rabbis aus Nazareth oder das Bekenntnis zu Jesus Christus in den Mittelpunkt stellt, oder beides zusammen. Die erinnerte Geschichte ist nicht die quasi objektive Voraussetzung für den Glauben, so als müsste man nur noch Ja und Amen sagen, sondern der Glaube tritt aktiv in die Geschichte der Erinnerung ein. Das wiederum kann Menschen helfen, die im Glauben auf der Suche sind. Denn die Offenheit befreit vom Druck der Vollständigkeit. Dogmen sind hermetisch, Glauben nicht. Man muss nicht alles glauben, um ein gläubiger Mensch zu sein. Die Evangelien selbst erzählen, wie die Menschen, die mit Jesus auf dem Weg sind, zwischen Gewissheit und Zweifel schwanken. Das gehört zum Glauben.
Es wird immer wieder gefragt, worin der christliche Glaube bestehe, wenn man Jesus so entschieden in die Kontinuität der Hoffnungen Israels stellt. Die Gegenfrage lautet: Geht es um das Christentum, oder nicht doch eher darum, mit dem Judentum und dem Juden Jesus an Gott zu glauben? Es wird auch gefragt, ob das Christentum nicht mehr sei als Humanismus. Die Gegenfrage: Was wäre falsch daran, wenn ein Mensch durch seinen Glauben zu einem humanen Leben fände? Schließlich wird moniert, dass man dafür kein Christ zu sein bräuchte. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Jesus Christus war auch kein Christ, sondern ein gläubiger Mensch, dem es mit allen Fasern seines Lebens darum ging, Gott als liebendem Grund zu vertrauen und seinem Nächsten beizustehen. Das kann man als Jude, Muslim, Buddhist, Humanist oder Christ. Wer sich in der Weltgeschichte umsieht, entdeckt, dass es leuchtende Vorbilder des Glaubens überall auf der Welt und auch in anderen Religionen gab und gibt. Gott sei Dank auch im Christentum. Als Christen glauben wir in der Erinnerung und Nachfolge Jesu an Gott als den Daseinsgrund der Liebe und an seine Barmherzigkeit. Die Trennlinie verläuft also nicht zwischen Christentum und anderen Religionen, sondern quer durch alle Religionen und Kulturen hindurch. Wo Macht und Geld vergöttert werden und Menschen sich über andere erheben einerseits, und wo sie ihrer Bestimmung folgen, in Ehrfurcht vor dem Leben, das Gott geschaffen hat, andererseits.
Zu den frühesten Erinnerungen an Jesus von Nazareth gehören die Ereignisse in Jerusalem und ihre Deutung. Seine Verurteilung, sein Martyrium und Tod am Kreuz, sein Begräbnis, der Besuch der Frauen an seinem Grab und wie ihn die Menschen, die ihm gefolgt waren, unter sich als lebendig erlebten. In ihrer Erinnerung formt sich das Bekenntnis zu Jesus Christus: Jesus aus Nazareth ist der Messias, den Gott von den Toten auferweckt hat. Für diese kleine Gruppe von Gläubigen bewahrheitet sich auf Golgatha ihr jüdischer Glaube und ihre Hoffnung auf den Gott der Barmherzigkeit und des Lebens. Es wird kein neuer Glauben geboren oder gestiftet, keine neue Religion in die Welt gesetzt. Sondern der Gott der Väter, der Gott Mose und der Propheten handelt an Jesus Christus so, als würde er selbst das Kreuz erleiden.
Gott am Kreuz – eine unmögliche Vorstellung, den Griechen eine Torheit, den Juden ein Ärgernis, wie es beim Apostel Paulus heißt. Für die einen war es Blasphemie, Gott mit der Hinrichtung eines Verurteilten in Verbindung zu bringen, für die anderen Anlass zum Spott, weil in der Höhenluft des Olymps kein Raum war für Blut, Schmerz und Verzweiflung. Zwischen diesen beiden Polen entsteht also die Graswurzelbewegung derer, die sich später Christen nennen – für die meisten Zeitgenossen nicht mehr als ein Haufen Verrückter.
Woran liegt es, dass diese Erinnerungen bei so starker Ablehnung nicht untergingen, sondern bewahrt und weiter ausgedeutet wurden? Und warum ist ausgerechnet das Kreuz als Inbegriff von Ärgernis und Torheit das Zentralsymbol und Herzstück des christlichen Glaubens geworden? Eine Antwort darauf fand ich während einer medizinethischen Veranstaltung zum Thema Schmerz. Mediziner, Psychologen und Seelsorger waren zu Worte gekommen. In der anschließenden Diskussion erhob sich ein Teilnehmer, der sich als ein in der Schmerztherapie tätiger Arzt und selbst langjähriger Schmerzpatient vorstellte. Er deutete auf das im Konferenzraum hängende Kreuz und sagte sinngemäß: Ich bin nicht besonders gläubig, aber irgendwann habe ich angefangen, in diesem Kreuz all die Menschen zu sehen, die zu mir kommen und auch mich selbst. Seitdem gehe ich hin und wieder in eine Kirche, nur um mich in diesen Anblick zu vertiefen.
Ich glaube, dass diese Szene den eigentlichen Grund berührt, warum das Kreuz sich als Zentralsymbol des Christentums durchgesetzt und bis heute große Bedeutung hat. Vielleicht ist darauf sogar zurückzuführen, dass der christliche Glaube noch heute besonders in den Weltregionen Zulauf findet, in denen das Leid überdurchschnittlich stark das Leben der Menschen bedrückt. Sie blicken auf zum Mann am Kreuz und fühlen, dass dort etwas geschah, was auch ihnen geschieht und ihnen gilt: Fürwahr, er trug unsere Schmerzen!
Читать дальше