Jesus von Nazareth hat das Risiko gekannt, das er mit seinem öffentlichen Auftreten und seiner Botschaft einging. Der Konflikt mit den herrschenden Theologen und schließlich in der hoch angespannten Situation im Land auch mit der politischen Führung ließ nicht auf sich warten. Ein Funke genügte, um die Situation eskalieren zu lassen, was sein Jünger Judas und vielleicht auch andere aus seinem Umfeld kaum erwarten konnten. Er schien zu schwanken, ob er sich dem aussetzen und die Konsequenzen auf sich nehmen sollte. Der Überlieferung nach entschied er sich im Garten Gethsemane dazu, seiner Sache treu zu bleiben. Als man ihn verhaftet, überlässt er sich dem Prozess in einer merkwürdigen Passivität. An keiner einzigen Stelle sagte der Rabbi aus Nazareth seinen Weg selbst voraus oder deutete ihn als notwendig an – das sind spätere Glaubenszeugnisse, die ihn als den Gottessohn und Christus/Messias darstellen, dieses Glaubensbekenntnis biografisch zurückprojizieren – und damit zweifellos eine ungeheure Anziehungskraft über die Jahrhunderte hinweg entwickeln.
Es sind die in den Evangelien und Briefen des Neuen Testaments und im Glaubensbekenntnis der Alten Kirche entfalteten Dogmen der Christologie, die heute vielen den Zugang zum Glauben erschweren und auch mir teilweise formelhaft und wie aus der Zeit gefallen vorkommen. Man bekommt das einfach nicht zusammen mit einem Weltverständnis, das eine metaphysische Wirklichkeit schlechterdings nicht mehr denken kann. Ich halte es daher für legitim, zunächst einmal den Spuren des historischen Jesus zu folgen. Ich verbinde mit dem Blick auf den historischen Jesus die Hoffnung auf eine Spurensuche, die den eigenen Glauben inspiriert. Also: Wie kann ich mit Jesus glauben? Statt gleich zu fragen: Wie kann ich an Jesus Christus glauben? Natürlich weiß ich, dass die Jesuszeit uns in den Schriften des Neuen Testaments als die von den ersten Zeugen und Zeuginnen gedeutete und erinnerte Christuszeit begegnet. Ich möchte diese Jesuszeit aber, wie er selbst es tat, zunächst einmal als Vertrauen auf die Gotteszeit und Gotteswirklichkeit verstehen.
Für mich ist Jesus aus Nazareth ein Mensch mit großem Gottvertrauen gewesen und dem Bewusstsein, ein Werkzeug des Friedens an der Schwelle zu einem Zeitenumbruch zu sein. Für diese Berufung suchte und fand er Gleichgesinnte zunächst unter den einfachen Leuten am See in Galiläa. Aus der Kraft dieser inneren Berufung verletzte er Konventionen und Regeln und wandte sich Menschen zu, die er in die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen (zurück)führen wollte. Im Mittelpunkt seines Glaubens stand das Bild eines barmherzigen Gottes. Daher richtete sich sein Blick zuerst auf Menschen, die unter die Räder gekommen waren, oder die man als gescheitert ansah. Indem Jesus aus Nazareth seine jüdischen Glaubensangehörigen in der Tradition der Prophetie und Visionen Israels aufzurütteln versuchte, hat er etwas hinterlassen, was Menschen aus allen Völkern noch heute bewegt.
Eine Schlüsselrolle nahmen dabei die Menschen ein, die ihn begleiten und als Erste davon erzählen, dass er auf unbeschreibliche Weise lebendig ist. Sie nannten es Auferweckung oder Auferstehung von den Toten, wie es insbesondere in der pharisäischen Frömmigkeit schon vor Jesus üblich war. Sie malten die Ereignisse mit den religiösen Bildern ihrer Zeit aus und ließen die Auferstehung durch Engel bezeugen. Sie kleideten ihre neue Hoffnung in die Erzählungen vom weggewälzten Stein und leeren Grab, von den Begegnungen mit seinen Jüngern und dem ungläubigen Thomas und schließlich am See Genezareth, wohin sie zurückgekehrt waren. Oder sie erzählten, wie er ihnen unerkannt auf dem Weg nach Emmaus, einem kleinen Ort in der Nähe Jerusalems, begegnete und ihnen erst abends beim Brotbrechen aufging, wen sie vor sich hatten. Das alles sind Glaubenserzählungen und keine Tatsachenberichte. Sie wollen die Lebendigkeit Jesu vermitteln und bezeugen, dass Jesus weiter unter ihnen ist. Hunderte waren es, die in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen am Passahfest und auch später noch auf dem Weg des einstigen Christenverfolgers Paulus nach Damaskus seine Kraft zu spüren glaubten, sich von der Botschaft des Sieges über den Tod mitreißen ließen, diese Hoffnung mit allem verknüpften, was sie über ihn gehört hatten, anfingen, nachzuerzählen und zu sammeln, aufzuschreiben und in ihren Versammlungen vorzulesen, was sie über ihn in Erfahrung bringen konnten. Für sie deutete im Rückblick auf sein Leben alles darauf hin, dass er der leidende Gottesknecht war, den der Prophet Jesaja angekündigt hatte, der, unerkannt und von der Welt verworfen, die Schuld seines Volkes trägt und mit Gott versöhnt. Oder dass er, der so stark an die Gottesnähe glaubte und zu ihm als Vater betete, selbst der Sohn eben dieses Vaters im Himmel wäre, mit dem er nun bis ans Ende der Zeit über seine Nachfolger wachen und dereinst über ihre Treue richten würde – eine Vorstellung, die wir aus den König-Jahwe-Psalmen kennen. Wie anders sollten sie es auch ausdrücken als mit den Sprachbildern ihrer Tradition?
Dabei vollzog sich ein Fokuswechsel. Je mehr sich der Glaube, den Jesus zu Lebzeiten selbst vertreten und verkündet hatte, nach seinem Tod in den Glauben an ihn als Sohn Gottes und Messias verwandelte, desto überzeugter war die junge Jesusbewegung, dass sich die alten Verheißungen Israels nun für alle Menschen erfüllten. Sie knüpften damit an die großen Erzählungen des Tanach an, sahen in Jesus Christus den zweiten Moses, der sein Volk aufs Neue aus der Gefangenschaft ins gelobte Land führt und als Messias und Friedefürst die alte Wurzel Jesse zum Leben erweckt – aber diesmal in einem neuen Bund mit allen Menschen. Jesus hat das Reich Gottes verkündigt, was kam, war die Kirche, heißt es spöttisch bei einem Kritiker aus dem 19. Jahrhundert – eine Kirche, die sich selbst als das neue Volk Gottes dazu berufen fühlte, die ganze Welt in Jesu Auftrag und Namen zu missionieren und zu taufen. Sicher war das eine bemerkenswerte Umdeutung: Jesus, der zwar getauft war, aber selbst nicht taufte, gibt vor seiner Himmelfahrt die Losung aus: Gehet hin in alle Welt, machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie auf den Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe (Matthäus). Ein Text, der in dieser Weise erst entstanden ist, als sich die christliche Gemeinde schon auszubreiten begann und mit dem sie ihre Mission begründete.
Als sich der Jesusbewegung Leute anschlossen, die keine Juden waren, aber mit dem jüdischen Glauben sympathisierten, und Juden aus der Diaspora, die hellenistisch geprägt waren, entstand das Bedürfnis, die Geschichte von Jesus Christus auch in deren Vorstellungswelt zu übertragen und Bilder und Symbole zu verwenden, die ihrem religiösen Weltbild und ihrer Kultur entsprachen. Fast hätte es der jüdischen Herkunft und der alten Geschichte Gottes mit seinem Volk nicht mehr bedurft, so unabhängig und universal wurde Jesus Christus im Johannesevangelium gedeutet: Im Anfang war das Wort (Logos), und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit (Prolog). Später fanden weitere Metamorphosen statt, die aus der Jesuserinnerung ein mystisches Drama, einen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse machten (Gnosis). Daraus entwickelten sich heftige Richtungsstreitigkeiten innerhalb der alten Kirche, bis das apostolische Glaubensbekenntnis in den ökumenischen Konzilien des vierten und fünften Jahrhunderts verbindlich wurde. Bis dahin wurden, in der Sorge, das Christusbekenntnis könnte verfälscht werden, (apokryphe) Evangelien verworfen, der biblische Kanon abgegrenzt, Glaubensregeln aufgestellt und Bischöfe (Aufseher) eingesetzt. Der christliche Festkreis von Ostern und Pfingsten wurde um Weihnachten erweitert. Und die Kalender folgten allmählich einer neuen Zeitrechnung: post Christum natum – nach Christi Geburt.
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