1 ...6 7 8 10 11 12 ...30 Agilität steht für die Fähigkeit, in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern in kurzer Zeit angemessen (re)agieren zu können – strategisch, organisatorisch und kulturell.
Um eine solche Agilität in Unternehmen zu erreichen braucht es diverse Elemente. Eine gute Systematisierung dieser Elemente bzw. verschiedener zentraler agiler Begriffe liefert die auf SCHELLER basierende Abbildung 2. 28Letztlich sind Unternehmen dann als agil zu bezeichnen, wenn die handelnden Akteure agil denken und handeln. Es braucht demnach eine agile Haltung bzw. ein agiles Mindset („agil sein“). Ein solches agiles Mindset lässt sich durch normative Werte beschreiben, die sich in Prinzipien bzw. Handlungsgrundsätzen manifestieren. Umgesetzt wird das agile Mindset über einzelne agile Praktiken (methodische Bausteine, z. B. Review, Task-Board, Backlog) sowie die Kombination verschiedener Praktiken in Form von ausgearbeiteten Prozessen und Strukturen (z. B. Scrum, SAFe, Holacracy). Durch die Anwendung von agilen Praktiken und Ansätzen wird agil gehandelt („agil machen“).

Abb. 2: Elemente von Agilität 29
Die linke Seite der Abbildung steht für eine agile Kultur, der rechte Teil für eine agile Organisation. Zwar ist es letztlich entscheidend und daher erstrebenswert, dass die Akteure agil denken, weil sich das Handeln dann daraus ergibt. Allerdings ist es nicht möglich, direkt an der Kultur zu drehen. Einfach ein Hochglanzplakat mit neuen Leitlinien und Werten an die Wand zu hängen ist meist wenig hilfreich. Kultur ist von Natur aus sehr komplex, träge und lässt sich nur indirekt beeinflussen. Der Weg zur Kulturveränderung führt über die Veränderung des täglichen Verhaltens der Menschen, denn das Verhalten, das sich tagtäglich in der Kommunikation und der Zusammenarbeit zwischen den Menschen innerhalb der Unternehmensgrenzen und darüber hinaus zeigt, ist Ausdruck der Kultur, macht diese sichtbar. Daher steht auch die Kulturveränderung in Richtung Agilität im permanenten Wechselspiel mit dem Einsatz und dem Erleben agiler Ansätze. Durch das Ansetzen an der rechten Seite wird die linke Seite beeinflusst und über die dynamischen Wechselwirkungen die Grundlage für eine wandlungs- und anpassungsfähige Gestaltung agiler Ansätze auf der rechten Seite geschaffen. Deshalb fokussiert das vorliegende Buch und dieser Einführungsbeitrag auf die rechte Seite der Abbildung 2, die „agile Organisation“.
Der Begriff agile Organisation steht für Prozesse und Strukturen, die es ermöglichen, in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern in kurzer Zeit angemessen (re)agieren zu können.
Diesen Fokus auf die agile Organisationsgestaltung verdeutlicht auch die Abbildung 3. In den Kernkapiteln 6-8 dieses Einführungsbeitrags werden verschiedene agile Prozessmethoden sowie Strukturansätze vorgestellt, erläutert und bewertet. Dies soll dem Leser helfen, agil zu agieren und darüber – indirekt – auch eine agile Kultur zu entwickeln. Da die Prozesse und Strukturen immer von Menschen gelebt werden und daher eine Trennung von Organisation und Kultur nie ganz trennscharf sein kann, wird der wichtige Bereich der agilen Kultur aber nicht ganz ausgenommen, sondern im folgenden Kapitel 2.3sowie im Kapitel 9(agile Zusammenarbeit und Führung) in den notwendigen Grundzügen betrachtet. Die Beiträge von HARTMANN und SCHULLER/FUCKER befassen sich explizit mit einer agilen Kultur, und auch in vielen anderen Beiträgen wird der Kulturaspekt angesprochen.

Abb. 3: Zusammenspiel von agiler Kultur und agiler Organisation
Um das Werte- und Prinzipiengerüst einer agilen Kultur bzw. eines agilen Mindsets zu verstehen, lohnt sich ein Blick in das „Agile Manifesto“ sowie ergänzend in die Grundlagen von „Lean Thinking“.
Das Agile Manifest aus dem Jahre 2001 (vgl. Kapitel 2.1) spiegelt die Einstellung und Haltung einer Gruppe von Software-Entwicklern wider, die feststellten, dass die damaligen Prinzipien und Arbeitsweisen der Software-Entwicklung nicht mehr zu den dynamischen Anforderungen passten, mit denen sie konfrontiert waren. Aus der Haltung „We are uncovering better ways of developing software by doing it and helping others do it“ hat sich ein Werte- und Prinzipiengerüst entwickelt, das heute über IT-Abteilungen hinaus auf alle Organisationsbereiche ausstrahlt. Den Kern des agilen Manifests bilden 4 normative Wertepaare und 12 Prinzipien bzw. Handlungsgrundsätze. 30
Im Hinblick auf die agilen Werte heißt es:
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Tools
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlungen
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.
Diese vier Wertepaare verdeutlichen den tieferen Sinn von Agilität. Der Fokus liegt auf praktikablen, funktionierenden Lösungen, der Interaktion zwischen verschiedenen Individuen und mit dem Kunden sowie auf kontinuierlicher Veränderung bzw. Verbesserung. Es handelt sich aber bei den Aussagen oben nicht um unvereinbare Gegensatzpaare oder um die Feststellung, dass Prozesse, Tools, Dokumentation, Vertragsverhandlungen und Pläne obsolet oder überflüssig sind. Es zeigt vielmehr, dass die Bedeutung der Werte auf der linken Seite unter den aktuellen Rahmenbedingungen höher eingeschätzt wird und diese im Zweifel denen auf der rechten Seite vorgezogen werden. Auf dieser Grundlage dienen die Wertepaare als Leitlinie für die Priorisierung von Initiativen, Projekten und Aufgaben von der strategischen bis zur operativen Ebene (vgl. Kapitel 6-8).
Die folgenden zwölf agilen Prinzipien konkretisieren dieses Wertegerüst:
1. Kundenpriorität: Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen.
2. Veränderungsgetrieben: Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.
3. Funktionsfähige Inkremente: Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.
4. Zusammenarbeit: Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten.
5. Motivierte Individuen: Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.
6. Direkte Kommunikation: Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht.
7. Messung des Fortschritts: Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß.
8. Gleichmäßiges Tempo: Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.
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