Frau Sarasins Augen waren von Tränen verschleiert, alle Augenblicke wischte sie diese mit einem Papiertaschentuch ab. »Ja, das war sie. Ein liebes Mädchen, aber äusserst eigenwillig. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass sie einmal einen guten Mann aus unseren Kreisen heiraten würde. Aber es sollte wohl nicht sein…«
Margareta Sarasin schlug die Hände vor das Gesicht und begann leise zu schluchzen. Ihr Mann legte einen Arm um ihre Schultern und fuhr fort. »Ja, eigenwillig war sie, aber auch sehr intelligent und zielstrebig. Sie schaffte ohne Probleme ihre Matura und studierte dann mit Enthusiasmus Geschichte und Geografie. Gymnasiallehrerin war immer ihr Ziel gewesen, und ich glaube, sie hatte wirklich ein Talent dazu, die Jugendlichen für ihre Fachgebiete zu begeistern. Nach dem Studium ging sie ein Jahr auf Reisen und fand danach sofort eine Anstellung am Gymnasium am Münsterplatz, der traditionsreichsten Mittelschule der ganzen Schweiz. Ich denke, sie war wirklich glücklich an dieser Schule. Vor sechs oder sieben Jahren hat sie sich dann diese hübsche Wohnung in Riehen gekauft. Aber wir waren leider nur ein einziges Mal dort eingeladen.«
Oh, das ist allerdings bemerkenswert, dachte Anna Auer für sich. »Das heisst, Sie hatten nur wenig Kontakt zu Ihrer Tochter?«
Max Sarasin zuckte mit den Schultern. »Sie ging eben ihre eigenen Wege. Man sah sich ab und zu.«
»Dann wissen Sie wohl auch nicht Bescheid über ihr Privatleben?«
Margareta Sarasin lachte dünn. »Glauben Sie denn, sie hätte uns etwas erzählt? Nein, wir wissen wenig über sie. Im Tennisclub Smash Basel war sie sehr aktiv, dort hatte sie ihre engsten Freundinnen. Darunter natürlich Patrizia Staehelin, die Partnerin unseres jüngeren Sohnes Peter. Und was Monikas Liebschaften betrifft, erzählte man sich so einiges…«
Erneut war Frau Sarasin in Tränen ausgebrochen.
»Dann will ich Sie nicht länger belästigen«, sagte Anna Auer. »Nur eine kleine Bitte hätte ich noch. Leider durfte ich Ihre Tochter nicht mehr lebend kennenlernen. Hätten Sie mir vielleicht ein gutes Foto von ihr?«
Margareta Sarasin nickte, verliess wortlos den Salon und kam mit einem kleinen, gerahmten Portrait zurück.
»Oh, wie schön, vielen Dank. Sie bekommen das Bild garantiert bald wieder«, versicherte Anna Auer, »und dann möchte ich jetzt gerne Ihre Söhne kennenlernen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Max Sarasin, »Sebastian, der ältere, wohnt mit seiner Familie hier im Haus. Wissen Sie, wir haben im ersten Stock eine Küche und im Erdgeschoss ein Bad einbauen lassen, und so die viel zu grosse Villa in ein Zweifamilienhaus verwandelt. Und der Peter hat sein eigenes Haus in Riehen. Ob wohl Sebastian zuhause ist? Anna!«
Anna Auer zuckte zusammen. Ach Unsinn, ich bin ja gar nicht gemeint!
Die ältere Frau in der weissen Schürze erschien im Türrahmen.
»Bitte, Herr Doktor Sarasin?«
»Ist die Jungmannschaft im Haus?«
»Sehr wohl, Herr Doktor Sarasin, bis zum Mittagessen sind noch alle hier.«
Anna Auer schaute auf die Uhr: Zwanzig nach elf. Was wohl dieser Sohn beruflich machte?
»Bring die Kommissarin nach oben, Anna.«
»Sofort, Herr Doktor Sarasin.«
»Mama, sag doch endlich, was ist eigentlich passiert? Warum wurden wir alle nach Hause geschickt? Man sagte uns nur, es sei ein Unglück geschehen.«
Nadja fasste ihre Mutter bei den Schultern. Barbara Moser hatte Tränen in den Augen.
»Ach, Nadja, es ist ja so schrecklich. Anscheinend wurde unsere liebe Kollegin Monika Sarasin gestern Abend in den Langen Erlen umgebracht.«
»Was! Umgebracht? Wie furchtbar!«, flüsterte Nadja und drückte ihre Mutter an sich. »Aber weshalb nur? Wer konnte nur so etwas tun? Die Sarasin war doch so eine mega tolle Lehrerin! Und noch so jung! Ich fasse es einfach nicht!«
In diesem Moment kam Guido Moser zur Tür herein. Er stellte seine Mappe auf den Boden, kam zu Frau und Tochter und strich den beiden sanft über die Haare. Seine Stimme war fast nur ein heiseres Flüstern. »Ja, meine Lieben, wir haben heute einen schrecklich traurigen Tag durchzustehen. Wer kann das nur getan haben?«
»Die Polizei wird das schon herausfinden«, versuchte Barbara sachlich zu bleiben. »Aber kommt jetzt zu Tisch, essen müssen wir ja trotz allem etwas.«
Schweigend begann die kleine Familie ihre Mittagsmahlzeit, alle waren in ihre eigenen Gedanken versunken.
Guido Moser war, seit seinem Studienabschluss vor fünfundzwanzig Jahren, im Gymnasium am Münsterplatz Lehrer für Mathematik und Physik. Seine Frau Barbara unterrichtete dort, auch schon seit bald zwei Jahrzehnten, Biologie und Chemie. Die siebzehnjährige Nadja war jetzt in der Klasse 4b. Weder ihr Vater noch ihre Mutter erteilten Unterricht in dieser Klasse. Dies wurde wenn immer möglich so geregelt, um von vornherein alle Spekulationen, ein Lehrer könnte das eigene Kind bevorzugen, zu entkräften. Aber bei Nadja wäre sowieso niemand auf eine solche Idee gekommen. Alle wussten, dass sie nicht nur talentiert, sondern auch sehr fleissig war, und ihr Platz als Klassenprima war unangefochten. Gleichzeitig war Nadja so liebenswürdig und bescheiden, dass auch niemand neidisch auf sie war.
Barbara erhob sich vom Tisch und räumte das Geschirr ab. »Willst du heute noch lernen, Nadja?«
»Ich müsste schon, aber ich glaube, das schaffe ich nicht, ich fühle mich so mega aufgewühlt. Ständig geht mir die Sarasin im Kopf herum… Ich glaube, heute kann ich nur noch herumhängen .«
»Dann geh doch besser zu Lisa«, schlug ihr die Mutter vor.
Nadjas Augen leuchteten auf. »Ja, das ist eine gute Idee. Ein wenig tratschen, das wird uns gut tun.«
Lisa Carona aus der Parallelklasse 4c war Nadjas beste Freundin. Sie hatten schon zusammen die Grundschule besucht und waren fast unzertrennlich. Und dies trotz ihren ziemlich gegensätzlichen Charakteren. So gewissenhaft, ordentlich und fleissig Nadja war, so unbeschwert, chaotisch und wenig fleissig war Lisa. Aber obwohl Lisa zuhause nur wenig lernte, schaffte sie es doch dank ihrer Intelligenz und ihrem guten Gedächtnis, den Anschluss in der Klasse nicht zu verlieren und in allen Fächern zumindest auf ein Genügend zu kommen. Dafür galt Lisa als konkurrenzlos schönste junge Frau des Jahrgangs und war dementsprechend bei den Burschen die klare Favoritin. Ihre schlanke, mit genau den notwendigen Rundungen versehene Figur zog alle Blicke an, und die Mischung der Gene ihres japanischen Vaters und ihrer Schweizer Mutter hatte ein einzigartig hübsches Gesicht entstehen lassen, dessen exotischer Faszination sich niemand zu entziehen vermochte. Auch in ihrer Kleiderwahl war Lisa immer topaktuell, achtete aber gleichzeitig darauf, sich eine individuelle, zu ihrer fernöstlich angehauchten Erscheinung passende Note zu erhalten.
Wie Nadja das überhaupt aushalten konnte, so oft mit ihrer begehrten Freundin zusammen zu sein? War ihre Selbstsicherheit so stark, dass sie sich einfach nicht um solche Dinge scherte? Nadja hatte immer wieder gemerkt, dass sie selber die jungen Männer, die Lisa nachliefen, wenig interessant fand. Insofern war also zwischen den Freundinnen kaum Konkurrenz vorhanden. Umgekehrt hatte Lisa schon manches Mal gedacht, wie schön es sein müsste, so wie Nadja einen präsenten, warmherzigen Vater zu haben. Ihre Mutter war ganz in Ordnung, aber Lisa vermisste ihren Vater, der vor zwölf Jahren nach Japan zurückgegangen war, schmerzlich, obwohl sie nur noch eine schwache Erinnerung an ihn hatte.
Unmittelbar nach dem Läuten der Türglocke stand Lisa schon da.
»Ich habe dich schon vom Balkon aus kommen sehen, Nadja!«
Die Freundinnen umarmten sich innig, und Nadja erzählte natürlich sofort die Neuigkeit. Lisa konnte es kaum glauben.
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