„Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mich wieder geprügelt habe“, nuschelte er kaum hörbar. „Ich fand Schlägereien schon immer idiotisch. Vom Saufen ganz zu schweigen.“
Lewis schien sich jetzt mit der Tischplatte zu unterhalten, aber Alma hob den Kopf und sah ihn forschend an. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme nach, denn sie glaubte etwas darin gehört zu haben, das sie zutiefst erschreckte. Zuerst hielt sie es für Müdigkeit, Nachwirkungen seines Rausches und der Schlägerei, doch je länger sie ihm zugehört hatte, desto mehr bestätigte sich ihr Verdacht. Lewis Left Hand hatte endlich aufgehört, sich selbst zu bedauern, weil er plötzlich einen Ersatz für dieses Gefühl gefunden hatte. Lewis Left Hand hatte resigniert. Aufgegeben.
Alma widerstand dem Drang, ihn an den Schultern zu packen und durchzuschütteln. Stattdessen fasste sie sich ein Herz. „Dein Vater wurde in einer Kneipe wie dieser erschossen. Anschließend schafften sie seine Leiche nach Pine Ridge, legten sie in ein Auto und schoben den Wagen über eine Klippe in den Badlands.“ Alma schickte ein wortloses Gebet in die heiligen vier Richtungen und bat um Hilfe für sie beide, bevor sie noch hinzufügte: „Es hieß, John Left Hand hätte in betrunkenem Zustand die Kontrolle über den Wagen verloren und einen tödlichen Unfall in unübersichtlichem Gelände gehabt.“
Lewis hob das Gesicht aus seinen Händen und starrte Alma an, als wäre sie ein Geist. Der Geist redete unbeirrt weiter.
„Aber es war kein Unfall. Es war Mord!“
Lewis bewegte die Lippen und brachte keinen Ton heraus. Alma schluckte.
„Und dein Vater war mit Sicherheit nicht betrunken.“
Lewis räusperte sich und fand seine Stimme wieder. „Warum erzählen Sie mir das? Jetzt?“
„Ich denke, du solltest es wissen.“ Alma sah ihm fest in die Augen und hielt seinem verletzten Blick stand. „Es steht nicht viel in den Unterlagen, die in Pine Ridge liegen, aber es gibt Hinweise und eine Akte über deinen Vater … und andere. Das FBI und … und andere wissen Bescheid. In nächster Zeit wirst du jedoch kaum Gelegenheit erhalten, dich darum zu kümmern. Und es wäre unklug, dir die Papiere hierher zu bringen oder …“
Der Wärter drehte den Schlüssel im Schloss und Alma zuckte zusammen. Lewis lehnte sich vor und griff nach ihren Händen. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern.
„Warum haben Sie mir das alles nicht früher erzählt, verdammt nochmal?“
Alma blickte ihm ruhig in sein wutverzerrtes Gesicht, bemerkte die mühsam unterdrückten Tränen in seinen Augen, die er verzweifelt zurückzuhalten versuchte, und löste vorsichtig ihre Hände aus seinem fordernden Griff. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
„Es ist nicht unsere Art, Lewis. Schlimme Dinge sind geschehen. Aber du musst deine eigene Wahrheit finden, dann findest du auch dich selbst.“
Die Tür öffnete sich und der Beamte betrat den Raum. „So Leute, die Besuchszeit ist um.“
Alma erhob sich. Lewis stand langsam auf und hielt ihren Blick fest. Sie lächelte ihm zu. „Keine Sorge, es gibt einen Weg. Und wir werden dich hier rausholen!“
An der Tür drehte sie sich noch einmal um. Ihr Herz machte einen erschrockenen Hüpfer, als ihr John Left Hand in Gestalt seines Sohnes in die Augen sah. Hatten sie ihn auch so zugerichtet, bevor sie mit ihm fertig waren? Almas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Hastig ging sie hinaus.
Minneapolis, Winter 1987
Am Sonntagmorgen hatte das Sheriffbüro die Stammespolizei informiert und gleich nach ihrem Besuch bei Lewis setzte sich Alma mit Bernard Little Horse in Minneapolis in Verbindung. Dieser wandte sich ohne zu zögern an den Anwalt Raymond Burns, von dessen Engagement für die Indianer Bernard sehr angetan war. Burns hatte schon öfter mit Fällen zu tun gehabt, bei denen latenter bis offener Rassismus im Spiel war. Sein besonderes Interesse galt dabei den Ureinwohnern, deren Bevölkerungsanteil in manchen Städten wie Minneapolis relativ hoch war. Trotz eigener Community und sichtbaren Verbesserungen während der letzten Jahre, stellten sie dennoch nur eine Minderheit dar, die sich verzweifelt gegen die stetig steigende Kriminalität zur Wehr zu setzen versuchte.
Burns Engagement kam dabei nicht von ungefähr, denn sein Schwiegervater und ehemaliger Arbeitgeber hatte sich zu seinen Lebzeiten mit Haut und Haaren der Bürgerrechtsbewegung verschrieben, und dabei auch immer wieder Mitglieder von AIM, dem American Indian Movement, vertreten.
Als Bernard Little Horse, Stammesratsmitglied der Brulé Lako- ta, persönlich um Burns Rechtsbeistand für einen jungen Mann namens Left Hand bat, klingelten bei dem Anwalt die Alarmglocken. Der Name erregte Raymonds Aufmerksamkeit und so rief er vor seinem Termin mit Little Horse seine Exfrau Mary-Ann an.
Am frühen Nachmittag tauchte Raymond wie verabredet bei Mary-Ann auf, um sie mit Fragen nach einem ehemaligen Klienten ihres Vaters zu löchern. Ob sie den Namen Left Hand schon einmal gehört hätte? Ob sie die alten Akten ihres Vaters aufbewahrt hätte?
Mary-Ann stand mit verschränkten Armen in der Küche und wartete darauf, dass ihrem Ex endlich die Luft ausging und sie ihm sagen konnte, was sie von ihm und ihrem Vater hielt. Während sie sich den Namen durch den Kopf gehen ließ, musste sie widerwillig zugeben, dass er tatsächlich eine Erinnerung geweckt hatte. Abrupt entfaltete Mary-Ann ihre Arme und ließ Raymond einfach stehen. Bevor er sich von seiner Verblüffung erholen konnte, kam sie bereits mit einem Aktenordner und einem schmalen, ledergebundenen Buch wieder zurück.
„Hier, das ist alles, was ich dir geben kann, Ray. Vater hatte, wie du ja wohl weißt, einen Sammlertick in Bezug auf seine verlorenen Fälle. Er hob seine Notizen auf, für den Fall, dass ein Verfahren neu aufgerollt werden würde. Nun, eigentlich habe ich nach seinem Tod diesen ganzen Aktenmüll hinausgeworfen, aber hier …“ Mary-Ann zögerte und strich sanft mit den Fingern über das abgegriffene Leder des Buches. Schließlich wischte sie energisch ihre Erinnerungen beiseite und hob den Kopf. „Dieser Fall war eine Ausnahme. Ich weiß nicht viel über die Fakten, es ist sehr lange her, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Fall hier die Ursache für Vaters Tod war. Zumindest indirekt.“
Sie reichte Raymond die Akte und das Buch mit den Worten: „Ray? Versprich mir, dass du vorsichtig sein wirst. Wir sind vielleicht nicht besonders gut miteinander ausgekommen, aber ich will nicht, dass du endest wie Dad!“
Burns schluckte trocken, drückte die Akten an sich und musterte Mary-Anns zweifelndes Gesicht. Er räusperte sich und amüsierte sich über ihre Sorge, antwortete aber ernst: „Annie, dein Vater hat Selbstmord begangen. Wieso sollte das ausgerechnet etwas mit diesem Fall zu tun gehabt haben, um Himmels Willen? Das war vor zwanzig Jahren. Aber dein Vater hat sich erst viel später umgebracht, oder etwa nicht?“
Mary-Anns Zweifel und ihre Sorge hatten sich bei den Worten ihres Exmannes umgehend in Ungeduld und Zorn verwandelt. Es hatte sich nichts geändert und so zischte sie ihm jetzt zwischen zusammengebissenen Zähnen zu: „Dad wollte den Fall wieder aufrollen, du Idiot!“
„Was?!“
„Er war auf irgendetwas gestoßen. Reiner Zufall. Er ging zum FBI, stellte denen eine Menge Fragen, fuhr sogar nach South Dakota und nahm sich die dortigen Akten noch einmal vor, bis er sich vier Wochen später auf einem Parkplatz in Rapid City erschossen hat.“
„Rapid City? Was redest du da? Er ist doch hier in seinem Büro gestorben?“
„Nein, ist er nicht.“
Mary-Anns Stimme klang seltsam tonlos. Erschöpft zog sie sich einen Stuhl heran, ließ sich müde darauf sinken und bat Raymond um ein Glas Whiskey. Vorsichtig nippte sie daran und verzog das Gesicht. Burns wartete.
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