„Was ist los, Bernice? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“
Ihr kleiner Scherz versickerte ungehört in der wachsenden Verzweiflung, die sich auf dem Gesicht von Bernice wiederspiegelte. Sachte berührte Eileen den Arm des Mädchens. Dann schloss sie die Schiebetür zum Wohnzimmer und forderte Bernice auf, ihr alles zu erzählen, was sie auch ihrem Mann gesagt hätte. Sie unterbrach Bernice, aus der die Worte nur so heraussprudelten, kein einziges Mal. Als der Wasserkessel pfiff, drehte sie sich lediglich um und zog ihn vom Herd. Erst als Bernice fertig war, stand sie nachdenklich auf und bereitete den Tee zu. Stark und mit sehr viel Zucker. Vielleicht machte sich Bernice grundlos Sorgen. Vielleicht stand ihnen aber auch eine lange Nacht bevor.
Lewis fuhr durch die Nacht.
Als er Rosebud verließ, war es Tag gewesen und er war Richtung Parmelee gefahren. Doch als er auf den Highway nach Westen einbog, setzte bereits die Dämmerung ein, obwohl es erst kurz nach vier Uhr nachmittags war.
Lewis schaltete das Licht ein und die Scheibenwischer. Der Wind kam in immer heftigeren Böen aus Norden und peitschte Schnee und Eis vor sich her. Die Lichtkegel der Scheinwerfer schoben sich schwerfällig durch die weiße Flockenwand und wurden bereits wenige Meter vor dem Wagen von der Dunkelheit verschluckt. Es war Nacht geworden. Lewis fuhr durch die Nacht. Obwohl es ihm eigentlich egal war, wohin er fuhr, wusste er instinktiv, dass Pine Ridge und die Unterlagen über seinen Vater das Ziel dieser Reise waren. Sollte er auf dem Weg zu diesem Ziel allerdings erfrieren, auch gut. Wer wusste schon, was ihn in Pine Ridge erwartete? Unterlagen. Geister aus der Vergangenheit. Ein Vater, der ihn nicht haben wollte. Ein Volk, das er nicht verstand. Nichts. Niemand. Vor diesen letzten beiden fürchtete er sich am meisten.
Lewis umklammerte das Lenkrad und kämpfte sich verbissen durch den schwersten Schneesturm dieses Winters. Er wusste es nicht, und wenn, dann wäre ihm auch das egal gewesen. Er merkte auch nicht, dass er sich nach einiger Zeit nicht mehr auf Reservatsland befand. Wäre es hell gewesen, hätte er die abgeernteten Felder sehen können, die sich nun anstelle des Graslandes zu beiden Seiten der Straße in die Nacht erstreckten. Übergroße Reklameschilder säumten seinen Weg. Doch er bemerkte es nicht.
Erst als die Lichter von Martin durch den Sturm sickerten und Lewis auf kürzlich geräumten Straßen durch den größten Ort des Bennett County fuhr, vorbei an hell erleuchteten Geschäften und Schaufenstern, wurde ihm klar, dass er sich wieder in der Welt draußen befand. Er vermochte sein Glück kaum zu fassen.
Lewis konnte es immer noch nicht fassen, als er in der dritten Kneipe ein Bier oder einen Schnaps zu viel trank und dem bärtigen Mann an der Theke neben ihm seine Faust mitten ins Gesicht rammte. Er fühlte Fleisch und Knorpel nachgeben, als das Nasenbein brach. Seine Fingerknöchel schmerzten und er beobachtete fasziniert, wie das Blut aus der gebrochenen Nase des Mannes schoss und ihm in die Mundwinkel lief. Lewis lachte. Dann wusste er nichts mehr von sich.
Zwei Tage später, der Blizzard hatte sich ausgetobt und war weiter nach Süden gezogen, klingelte das Telefon im Büro der Stammespolizei von Rosebud. Minuten später wusste auch Alma Yellow Hat Bescheid: Lewis Left Hand saß wegen Trunkenheit und Körperverletzung im Gefängnis von Martin und verlangte einen Anwalt zu sprechen.
Der Sheriff äußerte sein Befremden über einen juristisch wohlinformierten jungen Burschen aus dem Reservat, der offenbar seinen Platz in der Weltordnung noch nicht kannte.
Bernard Little Horse, der noch immer in Minneapolis festsaß, wurde informiert und versprach, so schnell wie möglich zu kommen. Inzwischen machte sich Alma Yellow Hat von Rosebud aus auf den Weg nach Martin. Es war Sonntag und sie hatten Glück gehabt, dass das Sheriffbüro sie informiert hatte.
„Mein Name ist Alma Yellow Hat. Ich komme aus Rosebud, um Lewis Left Hand zu besuchen. Man hat uns angerufen und zugesichert, dass ich heute noch eine Besuchserlaubnis erhalten würde.“
„Ah ja. Miss Yellow Hat. Einen Augenblick, bitte.“
Alma wartete, dann wurde sie von einer Beamtin gebeten, ihr zu folgen.
„Sie haben zehn Minuten, Miss Yellow Hat.“
„In Ordnung.“
Alma betrat den kleinen Raum, der als Besucherzimmer diente, und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an dem Tisch in der Mitte des Raumes standen. Sie wartete und hatte Angst. Angst vor dem, was ihr in einem gefangenen Lewis begegnen mochte, und Angst, weil sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Es war aber gut gewesen, dass Bernice mit ihm gesprochen hatte. Auch wenn niemand mit diesem Ausgang hatte rechnen können. War vielleicht doch etwas Wahres an dem Spruch, dass ein Left Hand nichts als Ärger machte? Alma erinnerte sich an diese Worte, mit denen ihre Mutter sie vor John gewarnt hatte. Das war lange her. John war tot. Sein Sohn aber lebte.
Die Tür wurde geöffnet und Almas Gedankengänge unterbrochen. Ein Polizeibeamter führte Lewis herein, verließ den Raum und stellte sich draußen neben die Tür. Wenn er wollte, konnte er durch das kleine Fenster in der Tür alles beobachten. Aber es interessierte ihn nicht und er hatte keinen entsprechenden Befehl erhalten.
Lewis zögerte kurz, dann setzte er sich Alma gegenüber an den Tisch, sah sie aus geschwollenen Augen kurz an und schwieg. Alma erschrak beim Anblick von Lewis Gesicht, das in allen Regenbogenfarben schillerte, und holte tief Luft.
„Was ist passiert?“
Lewis versuchte zu blinzeln, was ihm angesichts der Blutergüsse um beide Augen nicht so recht gelingen wollte. Er fuhr sich mit der Zunge über seine aufgeplatzte Unterlippe und brachte, trotz der Schmerzen, ein bescheidenes Grinsen zustande.
„Ich habe über jemanden gelacht, der meine Späße gar nicht komisch fand.“
Alma lächelte vorsichtig zurück und wiederholte ihre Frage.
Er schien sie zuerst gar nicht wahrnehmen zu wollen, aber dann überlegte er es sich anders. Er war froh, dass sie da war. Froh, dass sich jemand um ihn sorgte. Trotz allem.
„Ich habe mit Bernice Miller über meinen Vater gesprochen.“
„Ja, ich weiß. Sie macht sich Vorwürfe deswegen.“
Lewis sah seine Besucherin erstaunt an. „Aber das braucht sie nicht! Ich war froh, endlich mit jemandem darüber reden zu können.“ Er sah, wie Alma schuldbewusst den Kopf senkte, und beeilte sich fortzufahren.
„Bernice trifft keine Schuld an dieser Sache hier. Das habe ich mir selbst eingebrockt, okay?“ Lewis sah an Alma vorbei und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand so intensiv, dass Alma versucht war, sich umzudrehen.
Lewis redete weiter. „Möchten Sie vielleicht den Witz hören, den ich in der Bar zum Besten gegeben habe?“
Alma verschluckte das Nein, das ihr auf der Zunge lag und nickte widerstrebend. Der Junge wirkte völlig verändert, aber sie war sich keineswegs sicher, ob ihr die Veränderungen gefielen oder nicht. Sie wartete auf den Witz.
„Ich habe denen erzählt, dass ich ein Vollblut-Sioux auf Entdeckungsreise bin und hier nach meinem toten Daddy suche. Die Pointe ist mir leider entfallen, aber der Mann neben mir lachte und sagte etwas von einem ‚roten Hurensohn‘ und einem ‚Scheißindianer, der sich gefälligst verpissen sollte, bevor sie ihm auf die Sprünge helfen müssten‘. Da habe ich rot gesehen und zugeschlagen.“ Lewis lachte bitter auf und hustete.
Es trat eine betretene Stille ein. Alma hielt den Blick noch immer gesenkt und saß reglos auf ihrem Stuhl. Lewis tastete vorsichtig nach seinem zugeschwollenen linken Auge und verlagerte sein Gewicht, so dass er die Ellbogen auf den Tisch legen konnte, um seinen schweren Kopf mit den Händen halten zu können. Er hatte höllische Kopfschmerzen.
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