"Ausgerechnet im Ödland von Sharolan?" Barkon gab sich erst gar keine Mühe, seine Skepsis zu verhehlen.
"Ausgerechnet dort", bestätigte Maziroc. "Es ist wichtiger, als Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt. Was ist nun? Bringt Ihr uns hin?"
Der Zwerg zögerte kurz. "Ich bezweifle stark, dass die Pässe über den Luyan Dhor überhaupt noch begehbar sind", wandte er dann ein. "Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sind sie längst zugeschneit."
"Das wird sich zeigen, wenn wir dort sind." Mazirocs Tonfall machte seine Entschlossenheit deutlich. "Wir müssen es auf jeden Fall versuchen. Notfalls auch ohne Eure Hilfe. Zu viel hängt davon ab."
Wieder schwieg der Zwerg eine Weile. Miranya wagte kaum, sich zu rühren. Sie meinte, die Spannung fast greifbar spüren zu können, die in der Luft lag. Die Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen. Ihr war überdeutlich bewusst, dass eine Fortführung ihrer Mission fast nur von Barkons Antwort abhing. Ohne seine Hilfe hatten sie so gut wie keine Chance mehr.
"Also gut", verkündete er schließlich. "Wenn es sich so verhält, wie Ihr gesagt habt, werden wir Euch sicher nach Therion geleiten. Aber dafür erwarte ich, dass Ihr uns mehr darüber erzählt, welche Art von Hilfe ihr dort zu finden glaubt."
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Wie Eibon angekündigt hatte, schickte er gleich am nächsten Morgen mehrere Späher los, um die vor ihnen liegenden Landstriche zu erkunden. Jeder der Scouts trug ein Signalhorn bei sich, und sie erhielten den ausdrücklichen Auftrag, sich nicht weiter voneinander zu entfernen, als dass sie sich jederzeit mit Hornsignalen verständigen und auf eine Gefahr hinweisen konnten. Die restlichen Teilnehmer der Expedition folgten den Spähern wesentlich gemächlicher; so langsam teilweise, dass es Maziroc nach dem Gewaltritt der vergangenen Tage so vorkam, als bewegten sie sich kaum von der Stelle. Immerhin wurde ihr wesentlich verlangsamtes Vordringen mit allgemeiner Erleichterung aufgenommen. Zwei der vier Magier, die beiden Vingala und einige der Soldaten verzichteten sogar darauf, sich überhaupt auf ihre Pferde zu schwingen. Stattdessen führten sie die Tiere am Zügel und gingen zu Fuß, um auf diese Art einen Ausgleich zu der einseitigen Muskelbelastung beim Reiten zu schaffen. Obwohl sie nur selten rasteten, bewegten sie sich nur so langsam vorwärts, dass es für alle Beteiligten dennoch eine Erholung war.
Am frühen Nachmittag kehrten die ausgesandten Späher zurück, vollzählig und unverletzt, wie Maziroc erleichtert feststellte. Dennoch wollte er dabei sein, wenn sie Eibon Bericht erstatteten. Genau wie auch Charalon lenkte er sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck an die Seite des Elbenkönigs. Die Späher erzählten von beachtlichen Flüchtlingsströmen, die sich in Richtung Norden bewegten, weil sich die Kunde von den Plünderungen und Morden inzwischen weit verbreitet hatte. Mehrere Gehöfte und kleine Dörfer, auf die sie gestoßen wären, seien verlassen gewesen, von ihren Bewohnern offenbar in überhasteter Flucht aufgegeben, doch von Hornmännern oder irgendwelchen anderen Feinden, die für die Überfälle verantwortlich sein könnten, hatten sie nichts entdecken können.
Diese Flüchtlingsströme, mit denen sie im Laufe des nächsten Tages immer stärker konfrontiert wurden, entwickelten sich zu einem beachtlichen Problem. Schließlich gab Eibon sogar den Befehl, dass sie sich von den Straßen fernhalten sollten, da diese nicht nur durch die ihnen entgegenkommenden Menschenmassen kaum noch passierbar waren, sondern so mancher der Flüchtlinge sich von den Elben Schutz versprach und sich ihnen sofort anschließen wollte. Einige erwiesen sich dabei als so hartnäckig, dass es fast unmöglich war, sie wieder loszuwerden. Lieber wollten sie den Elben zurück in die besonders gefährlichen Gebiete folgen, als weiter in eine ungewisse Zukunft zu flüchten.
Aus dem gleichen Grund beschloss Eibon auch, Brelonia zu meiden, die nächstgelegene größere und einigermaßen stark befestigte Stadt, die nach Aussagen der Späher vor lauter Flüchtlingen bereits aus allen Nähten zu platzen drohte. Der Elbenkönig besaß genügend Ansehen, dass man auf einen Wink von ihm hin trotzdem in jedem Gasthaus sofort Quartiere für sie freigemacht hätte, doch er verzichtete auf dieses Privileg, um den wenigen Flüchtlingen, die in Brelonia eine Unterkunft bekommen hatten, nicht auch noch diese wegzunehmen.
Aufgrund des gemächlichen Tempos, in dem sie nur noch vordrangen, bot sich für alle auch in den folgenden Tagen genug Gelegenheit, sich von den vorangegangenen Strapazen zu erholen und frische Kräfte zu tanken, sodass sie zumindest wieder kampftüchtig sein würden, wenn sie auf einen Feind trafen. Vorläufig war von einem solchen jedoch nichts zu entdecken. Die Späher stießen lediglich vereinzelt auf seltsame Spuren, die sie sich nicht erklären konnten, doch schienen sie eher von Tieren als von Reitern oder einem marschierenden Heer zu stammen und lösten deshalb keine größere Unruhe aus. Ansonsten hatten sie stets nur das Gleiche zu berichten, sah man davon ab, dass die Zahl der Flüchtlinge stark abnahm, je weiter sie nach Süden vordrangen.
Schließlich stießen sie erstmals auf ein niedergebranntes Gehöft, dem bald weitere Gehöfte und schließlich auch ganze Dörfer folgten. In einigen lagen die Toten noch so herum, wie sie erschlagen worden waren.
Am späten Nachmittag des vierten Tages hatten die Späher erstmals etwas Aufsehenerregenderes zu melden. "Etwa zehn Meilen südwestlich von hier sind wir auf einen noch bewohnten Hof gestoßen", berichtete einer von ihnen. "Der einzige, offenbar in weitem Umfeld, der noch nicht überfallen oder freiwillig aufgegeben wurde. Die Leute dort haben zwar von den Überfällen gehört, aber sie wollen dennoch ausharren."
"Sie denken, bei den Angreifern würde es sich um Clanskrieger handeln", ergänzte ein anderer Späher. "Und sie fürchten keinen Raubzug, den die Hornmänner so weit von ihren Clansburgen entfernt durchführen."
"Diese Narren", stieß Eibon hervor. "Wahrscheinlich haben die anderen alle ebenso gedacht."
"Immerhin haben sie wenigstens Vorkehrungen getroffen", berichtete der Späher weiter. "Der Hof ist fast wie eine kleine Festung erbaut, und die Verteidigungsanlagen sind in den vergangenen Wochen noch zusätzlich verstärkt worden. Man bräuchte schon fast eine Armee, um sie zu erstürmen, und jeder Angreifer würde einen unglaublich hohen Blutzoll zahlen müssen."
"Wenn wir von menschlichen oder zumindest menschenähnlichen Angreifern ausgehen", warf Charalon ein. "Aber auch nur dann, und bislang wissen wir noch nicht, mit wem wir es hier zu tun haben."
"Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir versuchen sollten, die gefährdeten Bewohner in diesem Landesteil dazu zu überreden, vorläufig wegzuziehen", ergänzte Maziroc. "Wenigstens so lange, bis wir herausgefunden haben, wer hinter den Überfällen steckt, und wir die Gefahr vielleicht sogar beseitigt haben."
Eibon nickte zustimmend. "Das betrachte ich als eine der wichtigsten Aufgaben dieser Expedition."
"Aber sie werden nicht gehen", behauptete der Späher. "Wir haben auch schon versucht, sie zu überreden, aber erfolglos. Die Menschen dort vertrauen auf die Stärke ihrer Mauern, auf ihre Pfeile und die Schärfe ihrer Schwerter. Sie werden den Hof nicht aufgeben. Im Gegenteil, die Bewohner mehrerer anderer Gehöfte haben sogar dort Zuflucht gesucht."
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