»Da muss ich aber näher herankommen« meint er. »Und ein bisschen mehr Licht könnte auch nicht schaden.« Bevor ich etwas antworten kann, hat er auf den Lichtschalter gedrückt und die Lampe über mir flackert auf. Es ist eine Energiesparlampe, die einen Moment braucht, bis sie ihre ganze Leuchtkraft entfaltet. Ich bin dankbar dafür, das schont meine Augen.
Endlich sehe ich meine Zielperson. Er ist überraschend groß gewachsen, trägt einen schwarzen Zylinder auf seinem weißen Haar. Ein gut gepflegter Bart verdeckt sein eckiges Kinn, lenkt aber nicht von den tiefen Narben ab, die sich an beiden Wangenknochen entlangziehen. Ohne die würde er wie ein Gentleman aussehen, vielleicht ein Akademiker, der die meiste Zeit seines Lebens hinter einem Schreibtisch verbringt, umgeben von Büchern. Die Narben erzählen eine andere Geschichte.
»Wer bist du?« frage ich noch einmal, bevor mir trotz aller Verwirrung ein Verdacht kommt. »Du hast mich doch nicht etwa selbst beauftragt, dich umzubringen, nur um mich herzulocken?«
»Gut«, sagt er nur und kommt auf mich zu. Ich wehre mich mit aller Macht gegen den Drang, zurückzuweichen und wegzulaufen, bleibe also wie angewurzelt stehen. Manchmal bin ich neugieriger, als mir guttut. Jemanden, der so gefährlich ist wie mein Gegenüber so dicht an mich herankommen zu lassen, ist nie eine gute Idee. Aber da stehe ich also, bewege mich nicht, während er seine rechte Hand zu meinem Nacken bewegt und die linke in seiner Jackentasche verschwindet.
Neugier war der Katze Tod . Das würden sie auf meinen Grabstein schreiben, wenn sich jemand die Mühe machen würde, mich überhaupt zu begraben. Was eher unwahrscheinlich ist. Ich würde wohl eher als Leiche in einem Fluss oder in einem der großen städtischen Müllcontainer enden. Ein würdiges Ende für ein Leben, das hauptsächlich aus Töten und Stehlen bestanden hat.
Ich ziehe den Hemdkragen aus dem Weg, während er sanft über das Band streicht. »Die haben sich etwas weiterentwickelt, seit ich zum letzten Mal eines gesehen habe, ist aber trotzdem ganz einfach. Halt still, das dauert nicht lange.«
Er schließt die Augen. Dies wäre der ideale Moment, ihn ins Jenseits zu befördern. Das zu tun, was man mir aufgetragen hat, und dann nach Hause zu gehen, zu frühstücken und ein Nickerchen zu machen.
Aber nein, ich bin blöd und neugierig. Wenn der mich tatsächlich von dem Ring befreien kann, der mein ganzes bisheriges Leben bestimmt hat, ist es das Risiko wert. Andere vor mir haben schon versucht, das Band loszuwerden. Alle ohne Erfolg. Weiß auch nicht, warum ich diesem Mann überhaupt glaube. Wahrscheinlich doch nur ein Trick. Ich bin doch schon auf seinen anderen reingefallen. Beim ersten Mal war’s ja noch Zufall, ein Moment der Gedankenlosigkeit, das zweite Mal ist es einfach nur Dummheit und Leichtsinn.
Na ja, ich habe nie behauptet, dass ich besonders clever bin.
»Es wird sich jeden Moment öffnen«, murmelt der Mann. »Bereite dich drauf vor, das kann einen überwältigen.«
Er gibt mir keine Zeit, mich darauf einzustellen. Der Ring springt mit einem merkwürdig knirschenden Geräusch auf und ich ziehe die Luft tief ein und taumele nach hinten. Mein Herz schlägt immer schneller und ich merke, wie sich die Haare auf meiner Haut aufstellen. Ein Knurren steigt aus meiner Kehle.
»Ganz sachte«, sagt der Mann beruhigend. »Du kannst das unter Kontrolle bringen. Du bist stark«.
Mir treten Tränen in die Augen, als der Schmerz durch meine Fingerspitzen jagt. Ich muss gar nicht hinschauen um zu wissen, dass meine Krallen durch die Haut gebrochen sind. Meine Augen zucken, jedes Mal, wenn ich sie schließe, ändern sich die Farben des Zimmers und wechseln zwischen dem hellen Raum und verschwommenen verwaschenen Gestalten. Als ob ein Maler mit einem Schwamm über sein Werk wischt und dabei einen Teil der Farben aufsaugt und die klaren Linien unkenntlich macht.
»Du hast die Kontrolle.«
Meine Ohrmuscheln drehen sich der Stimme des Mannes entgegen. Er ist jetzt lauter zu hören, ich kann Nuancen in seinem Tonfall erkennen, die vorher nicht da waren.
Erinnerungen überfluten mich. Ich habe das schon einmal erlebt. Vor langer Zeit. Bevor man mir den Ring umgelegt hat. Ich bin durch langes Gras gelaufen, so viele Gerüche, das Geräusch von Insekten so laut wie das von Straßenverkehr. Meine Pfoten weich auf dem Boden, meine Krallen …
Kontrolle. Ich atme wieder tief ein und konzentriere mich auf diesen Gedanken. Kontrolle. Nicht das Tier. Nicht an das Tier denken, das in meinem Innern schlummert.
Langsam ziehen sich die Krallen zurück, mein Herzschlag normalisiert sich. Es dauert noch eine weitere Minute, bis auch mein Sehvermögen wiederhergestellt ist, aber ich behalte die ganze Zeit den alten Mann im Blick, der sich wieder in die Ecke zurückgezogen hat und mich beobachtet.
»Die haben eine gute Wahl getroffen, als sie dich heute Nacht hierher geschickt haben«, sagt er, als ich bereit bin. »Du hast genug Kontrolle darüber und kommst klar damit. Du hättest gar kein Halsband gebraucht. Die hätten das schon längst entfernen sollen. Na ja, deren Verlust ist mein Gewinn. Also lass uns übers Geschäft reden.«
»Geschäft?«, frage ich mit trockenem Mund. Ich fühle mich so merkwürdig. Ein bisschen schwach, wie kurz bevor man krank wird und nicht so recht weiß, was los ist und man nicht sagen kann, warum man sich nicht so toll fühlt. Ich befühle mit der Hand meinen Hals. An der Stelle, wo das Halsband gesessen hat, ist die Haut weich und empfindlich. Mit schwacher Geste stelle ich meinen Hemdkragen hoch und lege mir wieder den Schal um. Und denke daran, dass ich den Mann besser warnen sollte.
»Vielleicht solltest du das besser an dich nehmen« sage ich und werfe ihm eine winzige Ampulle zu, die ich in einer meiner vielen Hemdtaschen versteckt hatte.
Er fängt sie ohne Mühe und betrachtet sie neugierig. »Was ist das?«
»Ein Gegenmittel für das Gift, das ich dir verabreicht habe«. Ich grinse ihn an. »Sorry, ich wusste ja nicht, ob du mir wirklich das Band abnehmen würdest oder was Schlimmes ausheckst«.
Er zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Pfeile?«
Ich nicke. »In meinem Kragen versteckt. Ich habe dich geritzt, als du deine Hände um meinen Hals gelegt hast.«
»Also, das hab ich wirklich nicht kommen sehen. Bin beeindruckt. Bist anscheinend doch schlauer, als du aussiehst.«
Er zieht den Korken aus dem Fläschchen und trinkt den Inhalt. Ich bin überrascht, dass er mir vertraut und nicht denkt, dass ich ihn vergiften will. Nun ja, das habe ich ja schon getan, aber es hätte ja auch zweimal passieren können.
Er verzieht das Gesicht. »Nächstes Mal tu ein bisschen Zimt mit rein. Das verbessert den Nachgeschmack.«
Ich schaue ihn ausdruckslos an. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Im Keller gibt’s ein Labor. Im Büro wirst du einen Ordner mit allen nötigen Tastencodes finden, die du hier im Haus für die wichtigen Räume brauchst.«
Er beantwortet meinen fragenden Blick.
»Für das Waffenlager, das erwähnte Labor, den Fitnessraum und den Leichenraum.«
Diesmal kann ich mir nicht helfen und frage nach Luft schnappend »Ein Leichenraum? Hier im Haus?«
Er schaut mich merkwürdig an.
»Klar doch. Hat dein jetziger Auftraggeber etwa keinen?«
Ich schüttele den Kopf. »Wir entsorgen die Leichen oder lassen sie einfach liegen«.
Er schnalzt mit der Zunge. »Solch eine Verschwendung. Man kann so viel über den Tod lernen, wenn man sich die Leichen näher anschaut. Und man weiß ja nie, wann man vielleicht eine wohl platzierte Leiche gebrauchen kann, um jemandem eine Botschaft zu schicken.«
Irgendwie ist das schon logisch, aber gleichzeitig – will ich in einem Haus über einer Leichenhalle wohnen? Dann fällt mir wieder ein: Ich bin Auftragskiller. Das Einzige, was mir keine Angst einjagt, ist der Tod. Es gibt auf der Welt einiges, was viel schlimmer ist als der Tod an sich.
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