Frieda Steiner (1886–1931) war Louises dritte Schwester. Auch sie wird in Louises Briefen, etwa an Johanna, erwähnt – doch eher im Zusammenhang mit der elterlichen Erbschaft und Friedas Spitalaufenthalten ab 1928. Frieda gehörte zu den wenigen Frauen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ein Medizinstudium absolvierten. 1918 legte sie an der Universität Genf ihr Examen ab, zwei Jahre später erlangte sie an der Universität Lausanne den Doktorgrad. Über ihre weitere berufliche Tätigkeit ist nichts bekannt. In einem 1928 verfassten Brief von Louise an Johanna steht, dass Frieda damals Patientin im Kantonsspital Zug war, wo Louise sie auch besuchte. Frieda Steiner starb 1931 – genau wie acht Jahre zuvor ihre Schwester Ida – an Tuberkulose.
Die Theaterjahre
1929–1940
Den mutigen Schritt zum Künstlertum und damit auch zu seiner Selbstverwirklichung beschrieb der alte Franz Schnyder rückblickend: «1929 im Herbst … Seltsam: über eine unendliche Zahl von Kilometern findet sich kein Beispiel … Wie kam denn ich dazu, nach Berlin zu wallfahren, um mich mit dem Leben des Theaters und schliesslich der Filmwelt vertraut zu machen? Der innere Kern liegt in meiner charakterlichen Anlage … Seit ich bewusst lebe, lehne ich mich gegen jegliche Bevormundung auf … Sicherlich zu unrecht … Keiner meiner Lehrmeister hatte im Sinn, mich zu unterdrücken, zu liebesdienerischem Gehorsam zu bewegen … So kam für mich ein bürgerlicher Beruf nicht in Frage … Es war wohl ‹Glück› …» 21
Die Matura in der Tasche, ging Schnyder ohne Umweg an das nächstgelegene Bühnenhaus. Am Stadttheater Bern begann er, als Assistent in der Bühnendekorationsmalerei von Ekkehard Kohlund, dem Vater des bekannten Schauspielers und Regisseurs Erwin Kohlund, zu arbeiten. Gleichzeitig nahm er Phonetikstunden bei Paula Ottzenn, die festes Ensemblemitglied des Stadttheaters war.
Schnyders Arbeit in Kohlunds Maleratelier dauerte jedoch nur wenige Monate. Auf Empfehlung von Kohlund, Ottzenn und Hans Kaufmann, Direktor des Stadttheaters, beschloss Max Schnyder, seinen Sohn für die Schauspielschule von Louise Dumont und Gustav Lindemann in Düsseldorf anzumelden. Dumont und Lindemann waren die Gründer und Leiter des Schauspielhauses Düsseldorf, dem auch die renommierte Schauspielschule angeschlossen war, zu der nur noch «ganz hervorragende Begabungen» zugelassen wurden: «Wenn Ihr Sohn auf diese Gefahr hin die Reise hierher machen will, kann er an der nächsten Prüfung am 3. Januar nachmittags 5 Uhr teilnehmen und zu diesem Zwecke einige dramatische Scenen oder Monologe vorbereiten.» 22Ottzenn unterstützte Schnyders Bewerbung mit einem Empfehlungsschreiben an Dumont, in dem sie am 30. Dezember 1929 über ihn berichtete: «Franz Schnyder wollte hier als Voluntär anfangen […]. Es ist aber für den Schweizer, der in der Umgangssprache le patois spricht, auch bei grösster Begabung fast unmöglich, den dialektischen Beiklang abzulegen. Deshalb riet ich den Eltern des sehr begabten – sprachlich aber sehr gehemmten Franz Schnyder, keine Zeit zu verlieren und [ihn] in Deutschland studieren [zu lassen]. Er ist aussergewöhnlich intelligent, literarisch für sein Alter unheimlich versiert und sehr persönlich in seinen Auffassungen.» 23Am letzten Tag des Jahres 1929 schrieb Vater Schnyder an das Schauspielhaus Düsseldorf, dass er seinen Sohn in Deutschland ausbilden lassen wolle, «da er in der Schweiz sich die Weichheit der deutschen Sprache nicht aneignen könne, indem diese Weichheit in seinem täglichen Umgange wieder verdorben würde», und wies nochmals auf die für die Deutschen ungewohnte Aussprache seines Sohnes hin, die für einen Schweizer ganz natürlich sei und die Franz dank seines grossen Eifers sicherlich rasch korrigieren werde.
Sowohl er wie auch seine Eltern hätten damals nicht abschätzen können, was ihn erwartete, erinnerte sich Schnyder in reiferem Alter. Hätten sie gewusst, dass nur ein kleiner Teil der Schauspielschüler mit Erfolg von diesem Beruf würden leben können, hätten sie ihn nicht gehen lassen. «Die Nervenprobe ist sehr gross, und man muss gutes Glück haben», sagte er im Jahr 1965. 24
Franz Schnyder 1930, am Anfang einer verheissungsvollen Theaterkarriere in Deutschland. Experimentelle Mehrfachbelichtung vor der Tonhalle Düsseldorf.
Die Schauspielschule in Düsseldorf
Sein Vorsprechen war erfolgreich, und so zog Schnyder am 2. Januar 1930 an die Kronprinzenstrasse 18 in Düsseldorf und trat drei Tage später in die Hochschule für Bühnenkunst am Düsseldorfer Schauspielhaus ein. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre und wurde in den Fächern Sprechtechnik, Rhythmik, Rezitation, Rollenstudium, Dramaturgie, literarische Besprechung der Schauspielwerke, Gesichtspunkte der Regie, szenische Improvisationen, Theater- und Kunstgeschichte, Unterricht im Schminken und Französisch erteilt. 25Im Februar 1930 schrieb er seiner Tante Johanna, dass er sehr beschäftigt und Düsseldorf eine schöne, grosse Stadt sei. Nur die Luft sei sehr schlecht, wobei er sich zwar sehr gut fühle, aber «trotz Ortswechsel nun 2 kg abgenommen» habe. 26
Die Schauspielschule von Dumont und Lindemann schien Schnyder dann doch nicht besonders zu entsprechen, weshalb auf ihn wenig Verlass war und es vorkommen konnte, dass er gar nicht zu Aufführungen erschien. Am 2. Juni erhielt er eine erste Verwarnung: «Sehr geehrter Herr Schnyder! Es wird gemeldet, dass Sie in der Aufführung am 30.5. so spät in die Garderobe kamen, dass es Ihnen nicht möglich war, in Ihrem Auftritt im 3. Akt mitzuwirken. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir im Wiederholungsfalle nach den Bestimmungen der Hausordnung handeln werden und Sie die Konsequenzen dann tragen werden müssen. Wir können es nicht verantworten, Schüler für die Bühne vorzubereiten, die nicht im Vollbesitz des hier notwendigen Verantwortungsgefühls sind.»
Gemeinsam mit einem Schweizer Studienkollegen reichte Schnyder ein Gesuch ein, im Juli schon etwas früher in die Ferien verreisen zu dürfen, da sie eine weite Reise auf sich nehmen müssten und überzeugt seien, dass die Schule gut auf sie beide verzichten könne. Im Verzeichnis der Schüler der Hochschule für Bühnenkunst steht, dass Franz auf den 1. September 1930 ausgetreten sei. Dennoch musste er weitere Auftritte wahrnehmen. Mitte Monat wurde er erneut ermahnt, weil er bei einer Vorstellung von «Sturm im Wasserglas» gefehlt hatte. 27Dies schien wohl der Moment gewesen zu sein, in dem sich Schnyder definitiv zum Verlassen der Schule entschieden hatte. Am 25. September verabschiedete er sich schriftlich beim Intendanten Lindemann. «Wollen Sie meine grosse Dankbarkeit entgegennehmen: ich habe an Ihrem Institut ausserordentlich viel gelernt und gesehen; was ich von Düsseldorf mitnehme wird [mir] für mein ganzes Leben wichtig und notwendig sein. Mit grösster Hochachtung Ihr ergebener Fr. Schnyder.» 28
Zum ersten Mal in Berlin
Anschliessend zog Schnyder in die deutsche Hauptstadt, wo er an der Witzlebenstrasse 20 wohnte. Zu seiner Vermieterin Gertrud Grünbaum, einer älteren Dame, pflegte er eine enge, persönliche Beziehung. Zunächst nahm er privaten Schauspielunterricht und traf auf Ellen Widmann, 29eine Schweizerin, deren Theaterlaufbahn ebenfalls in Deutschland begonnen hatte. 30Mit ihr arbeitete er später in der Schweiz noch oft zusammen, sowohl im Theater als auch im Film.
Im November 1930 begann er das Studium bei Ilka Grüning und Lucie Höflich. Es gab daneben noch zwei andere Theaterschulen in Berlin: die Schauspielschule des Deutschen Theaters, gegründet 1905 von Max Reinhardt, und die Berliner Schauspielschule des Deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. Grüning und Höflichs Schule war unabhängig und deshalb nicht als solche offiziell im «Deutschen Bühnenjahrbuch» registriert. Jedes Jahr wählten die beiden Lehrerinnen zwölf junge Damen und Herren aus, die sie zwei Jahre lang unterrichten würden. Eine davon war die deutsche Schauspielerin Lilli Palmer. In ihrer Autobiografie «Dicke Lilli – gutes Kind» schrieb sie, dass es in ihrer Klasse ein Mädchen gab, das ihr «in puncto Talent das Wasser reichen» konnte. Es war Juana Sujo, die zehn Jahre zuvor mit ihren Geschwistern von Buenos Aires nach Berlin gekommen war, ehe sie auf Schnyder und Palmer traf.
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