Aus Gründen der allgemeinen Lesbarkeit haben wir von Fremdzitaten nahezu vollständig abgesehen. Wenn wir gleichwohl im letzten Kapitel auf Erik Petersons Auslegung von 1 Kor 15,20–28 eingehen, dann deshalb, weil Peterson die Ausführungen des Apostels Paulus im Licht der Tausendjährigen Herrschaft Jesu (vgl. Offb 20,1–6), also im Zeichen der ersten Leibesauferstehung, deutet. Um aber (nach 1 Kor 15,26–28) Gott als den Gott der Vollendung zu begreifen, dürfen wir nicht beim Vorletzten stehen bleiben, von dem nach einem Diktum Petersons mit einer durch nichts zu übertreffenden Pedanterie geredet werden müsse. Sondern es gilt, die zweite Leibesauferstehung, Endgericht und Gottes Neuschöpfung (vgl. Offb 20,11–22,21) wenigstens in Blick zu nehmen: Erst von hier aus wird deutlich, dass Gottes Kommen und sein Gericht nicht Abbruch der Schöpfung bedeutet als vielmehr ihre Vollendung: »damit Gott herrscht über alles und in allem« (1 Kor 15,28), oder nach Röm 8,23: »dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden«. Denn mit Gottes endgültiger Herrschaft ist das Ende aller Knechtschaft gekommen, während der Anbruch jeglicher neuen menschlichen Herrschaft im Horizont der Geschichte neue Unterdrückung und Knechtschaft mit sich bringt. Aus ihr aber führt keine Dialektik, kein wie immer gearteter Fortschritt heraus, sondern einzig das Gericht seines Christus wie dessen Unterwerfung unter Gottes Herrschaft. Galt bis dahin Jesu Wort: »Der Sklave ist nicht größer als sein Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt« (Joh 13,16 f.) – so hat von da an der Geringste unter seinen Jüngern an einer noch größeren Seligkeit als der des Wissens und Handelns teil, nämlich an der Frucht seiner Vollendung. Erst von hier aus lässt sich buchstäblich die Tragweite der Seligpreisungen Jesu, etwa in der Bergpredigt, ermessen, die den Verlierern und Verlorenen dieser unserer Geschichte gelten: Sie dürfen sich wahrhaft glückselig schätzen, weil sie allein deren Grenzen überschreiten – auf die Vollendung hin, die ihnen mit Christus in Gott zuteil wird: »Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen« (Offb 21,4). So löst sich nicht Offenbarung in Geschichte auf wie in den säkularistischen Theorien unseres Zeitalters, sondern die Geschichte geht in die Welt der Offenbarung ein, in den neuen Kosmos Gottes, in »einen neuen Himmel und in eine neue Erde« (Offb 21,1); oder wie es ergänzend in 2 Petr 3,13 unter Anlehnung an Jes 65,17; 66,22 heißt: in »einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt«. Niemals ist in einem theologischen Sinne die Gerechtigkeit eine bloße Idee, geschweige denn ein Ideal, dem es nachzueifern gilt. Aus neutestamentlicher Sicht gibt es keine Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes, ja nicht einmal ist von einer Gerechtigkeit Christi, des Gerechten (vgl. 1 Petr 3,18), die Rede. Vielmehr gibt es nur mehr eine Gerechtigkeit – Gottes: »Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, bezeugt vom Gesetz und von den Propheten: die Gerechtigkeit Gottes aus dem Glauben an Jesus Christus, offenbart für alle, die glauben. Denn es gibt keinen Unterschied: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade, durch die Erlösung in Christus Jesus. Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben. So erweist Gott seine Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden, die früher, in der Zeit seiner Geduld, begangen wurden; er erweist seine Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, um zu zeigen, dass er gerecht ist und den gerecht macht, der an Jesus glaubt« (Röm 3,21–26). Deshalb handelt es sich bei dem Christusglauben nicht um die Frage irgendeines Konfessionalismus, sondern es geht um den Grundtatbestand unserer Erlösung aus dem Schuldzusammenhang der Geschichte, aus dem sich kein Mensch erlösen oder befreien kann.
Nur geht es hier – und das gilt es festzuhalten – um Gottes Gerechtigkeit »in der gegenwärtigen Zeit«, also in der eschatologischen Zeit, in der Zeit nach Christus (die kaum zufällig nach seinem Namen benannt ist). Im Zustand der Vollendung aber hat die gesamte Schöpfung, die bekanntlich »bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« (vgl. Röm 8,22), teil an der Gerechtigkeit Gottes, werden Himmel und Erde deren Wohnstatt, deren Heimat. Ohne ihre Erlösung leben die Christen als Erlöste in einer unerlösten Welt – in jenem Zwischenzustand, den wir »Geschichte« nennen. Ihre Vollendung aber geht einher mit der Vollendung der Natur, mit der Vollendung der Schöpfung: in einem neuen Himmel und einer neuen Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.
Wie aber Gott der Schöpfer von Himmel und Erde ist, so ist auch die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde sein Werk. Und wie die Gerechtigkeit »in der gegenwärtigen Zeit« Gottes Gerechtigkeit ist, so ist auch die Gerechtigkeit des neuen Kosmos weder ein Produkt der Natur noch des Menschen, mag er sich auch aufgrund des technologischen Fortschritts noch so sehr in der Schöpferrolle gefallen; sie geht vielmehr auf Gottes Vollendung seiner Schöpfung zurück. Schöpfung wie Erlösung, Erlösung wie Vollendung kennen jedoch kein Ideal, sondern haben einen – Namen: den Namen des Wortes Gottes , des Sohnes, durch dessen Schaffen, Menschwerdung, Erlösung und Gericht die Menschen teilhaben an dessen Wesen und Erbe. Deshalb kann es auch keine »Idee des Christentums« geben, weil Gott beschlossen hat, unter diesem Namen »in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist« (Eph 1,10b). Deshalb ist eine Theologie, die dem nicht Rechnung trägt, keine; ist keine, die den Namen Theologie verdient, weil dieser unabdingbar ist die Erkenntnis des Vaters durch den Sohn sowie des Sohnes durch den Vater, die Schöpfung und Geschichte, Erlösung und Vollendung miteinander verbindet. Nichts anderes will die vorliegende Abhandlung in Erinnerung rufen.
Selbstkritisch wäre anzumerken, dass sich die christliche Theologie infolge der Übernahme des griechischen Dualismus von Zeit und Ewigkeit die Einsicht in deren Zusammenhang verstellt und damit der Ablösung des Zeitlichen, des »Geschichtlichen« vom Ewigen wenigstens indirekt Vorschub geleistet hat. Zeit und Ewigkeit im biblischen Sinne bilden jedoch keine dichotomischen, einander ausschließende als vielmehr komplementäre Größen. Deshalb ist das obige Epheserbriefzitat unvollständig, da es im Halbsatz zuvor von Gott heißt: »Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, was im Himmel und auf Erden ist.« Erst aus der »Fülle der Zeiten« [wörtlich: »im Blick auf den Heilsplan für die Erfüllung der Zeiten«] lässt sich ermessen, wie alles Zeitliche, Geschichtliche – mag es noch so unscheinbar wirken – in den »ewigen Plan« Gottes einbezogen ist. Und von hier aus wird ersichtlich, wie hoch die Bestimmung des Menschen anzusetzen ist, und zwar nicht aufgrund eines humanistischen Ideals, sondern einzig aufgrund des Wesens seines menschgewordenen Sohnes; oder wie es unvergleichlich der Apostel Paulus zum Ausdruck bringt: »Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen [!] Plan berufen sind; denn alle, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei« (Röm 8,28 f.). Daher kann es Gotteserkenntnis, Theologie in einem emphatischen Sinne, nur so weit geben, wie wir realisieren, dass wir von Ihm erkannt sind. Der Schlüssel zu dieser Erkenntnis liegt niemals in unserer Selbstevidenz, sondern einzig – so der heilige Athanasius – in der Erkenntnis des Vaters durch den Sohn und des Sohnes durch den Vater: »und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will« (Lk 10,22; Mt 11,27). Alle Gotteserkenntnis erfolgt von Gott her und niemals von uns aus, die wir nicht einmal die allernächste Zukunft zu ermessen vermögen. Gotteserkenntnis setzt allemal Gottesliebe in einem doppelten Sinne des Wortes voraus – eine Gottesliebe, die nicht ablösbar von Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit ist.
Читать дальше