Auch die Erinnerung an den berühmten Jesuit Friedrich von Spee scheint verloren gegangen zu sein, der als Beichtvater im Würzburger Hexenturm tätig gewesen sein soll und daraufhin seine Cautio criminalis (Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse) veröffentlicht hat – die vermutlich jedem Student der Theologie und Rechtswissenschaft bekannt war, wenn er sein Studium nicht im Beichtstuhl oder im Wirtshaus verbracht hat.
Neuzeitlich würde man von einem vollkommenen und über Monate andauernden Blackout sprechen. Oder ging es den am Prozess Beteiligten weniger um Wahrheitsfindung als um Wahrung von Besitzständen und persönliches Fortkommen?
Anhaltspunkte gibt es dafür einige, wie auch für eine völlig aus dem Ruder gelaufene Klosterführung und die Unfähigkeit ihrer Vorsteher, deeskalierend einzugreifen. Menschliche Schwächen verlieren sich in menschlichen Abgründen und es fällt schwer, Verständnis dafür aufzubringen, wenn heute immer noch von Unglück und Verdrießlichkeit in der Vita hochgeschätzter Geistlicher gesprochen wird, während sie eine unschuldige Frau auf den Scheiterhaufen gebracht haben. Nachträgliche Besinnung, gar Reue oder Bekehrung ist bei keinem der Protagonisten feststellbar.
Im Gegenteil: Ausgang des 18. Jahrhunderts, am Vorabend zur Französischen Revolution, hängen sie immer noch einem alten Weltbild nach und stemmen sich mit aller Gewalt gegen dringend notwendige Reformen im Klosterleben wie auch im universitären Bereich, wo sie mittels der theologischen Fakultäten die Deutungshoheit besaßen.
Die Situation in Stadt, Land und Kirche war um das Jahr 1750 komplex, verworren und heiß umkämpft. Maria Renata hatte sich ohne eigenes Betreiben und vor allem schuldlos in diesem schwer zu entwirrenden Knäuel verfangen, sodass man sie als Opfer hochtrabender, unbelehrbarer und unbekehrbarer Geister und hysterischer Gemüter betrachten kann.
Es ist daher notwendig, ein paar Dinge anzusprechen und zu erklären, die auf den ersten Blick nichts mit ihr zu tun haben, aber letztlich zu ihrem Tod beigetragen haben. Sie sollen auch helfen, das Andenken an die Ordensschwester Maria Renata Singer von Mossau zu fördern und zu bewahren. Insbesondere gilt es, den teils abenteuerlichen Narrationen und frömmelnden Exkulpierungen eine Aufarbeitung der damaligen Ereignisse und Umstände entgegenzusetzen.
Beginnen wir mit der korrekten Terminologie: Maria Renata war keine Hexe, es gab niemals wahrhafte, echte Hexen und Dämonen, sondern nur abstruse Gedankenkonstrukte bis hin zu krankhaften Zwangsvorstellungen vom Wirken des Teufels auf Erden.
Maria Renata wurde aber ganz real zu einer Hexe gemacht und zum Tod verurteilt.
Wie es dazu kam und warum, ist Grund für die nun beginnende Spurensuche.
Erstes Buch: URTHEIL
Von geistl. Maggs. Commissions wegen 1.
In Inquisitions Sachen entgegen und wieder die Mariam Renatam Sengerin de Mossau des Klosters zu Unterzell Praemonstratenser Ordens professam pto. Magies aliorumque Delictorum wird allem vor und Anbringen nach zurecht erkannt, daß nachdem Inqusitin in dreien Constitutis wiederhohlten und freiwillig eingestanden hat, was gestalten sie
1. eine Hex und Zauberin seye
2. mit dem Teufel einen pact gemacht, auch mit Veränderung ihres Nahmens Maria in Ema sich mehrmalen von ihm in das Hexenbuch habe einschreiben, nicht minder
3. sich von dem Teufel etwelche Hexen zeichen an ihren Laib habe machen lassen
4. Vermittels einer gebrauchten Hexenschmier und in einem gefärbten Röcklein öfters ausgefahren seye, und sich in der Hexen Versammlung eingefunden dann
5. in Versammlung öfters, außer solcher auch auch einmal Gott, Maria und den Heil. Sacramenten abgeschworen
6. sowohl in als auch außer berührter Versammlung und in dem Kloster Unterzell naheren Gemeinschaft und sogar Unzucht mit dem teufel vollbracht, desgleichen
7. das Hexen dreien Persohnen außerhalb dem Kloster gelehrt und
8. die Hexerei mit Mäus lebendig machen und Unterhaltung einer redenden Katz selbsten getrieben, durch solche Hexerei
9. nicht nur ermelten Klosters Probsten und den Abbten zu Oberzell zu beschädigen getrachtet, sondern auch
10. andere Leuth außer dem Kloster sowohl als ohngefaehr 6 Persohnen in demselben an ihrer Gesundheidt mit Verursachung der Auszehrung, Gliederschmerzen, Gichten, und derlei gleichen wirklichen Sachen zugefüget ja sogar
11. Acht von ihren Schwestern in dem Kloster mit dem Teufel besessen
12. den Pater Georgium zu Kloster Ebrach, und den Pater Nicolaum zu Kloster Almstadt in ihrer Vernunft verwirret und irrig gemacht, endlichen
13. die in der H. Comunion empfangene H. Hostien mehrmalen nicht hinuntergeschlungen, sondern solche mit Werfung in den See, auch zu 3 mahl in das geheime Ort, so auch einmal mit Nadelstopfung in ofentlicher Hexen Versammlung gottesräuberisch mishandelt habe …
In Inquisitions Sachen Mariam Renatam Sengerin de Mossau …
Es gibt kaum sichere Informationen über Maria Renata Singer von Mossau, das meiste wissen wir nur aus ihrer eigenen Schilderung – was in Anbetracht ihres Alters zum Zeitpunkt der Anklage, der Verhörsituation und der Vorwürfe, aber auch der Art und Weise, wie mit ihr umgesprungen wurde, nicht gerade überzeugend klingt.
Einen stimmigen und damit überzeugenden Lebenslauf zu zeichnen fällt schwer. Ihre Aussagen gründen auf Traumatisierungen im Kindes- und Jugendalter, auf fünfzig nicht immer einfache Jahre hinter Klostermauern und schließlich auf sieben rätselhafte Wochen Isolation und Einzelhaft im Kerker von Kloster Unterzell, wo sie mindestens einmal schwere körperliche Züchtigung erfahren hat.
Ein Eintrag im Taufbuch von Viechtach (heutiges Niederbayern) erwähnt am 27. 12. 1679 eine Maria Renata, deren Vater Friedrich Singer von Mossau hieß und Berufssoldat war. Sie soll laut dem Protokollbuch von Kloster Unterzell mindestens drei Geschwister gehabt haben. Darin heißt es zum 12. 5. 1699: „… ist Maria Renata nebst ihrer Mutter und Schwester nach Unterzell gekommen“ und hat sich für ein Noviziat beworben – zunächst erfolglos, es war kein Platz frei.
Sechs Jahre darauf ist im Protokollbuch die Ankunft zweier Brüder verzeichnet, beide Leutnants, die aus dem Krieg kommend, ihre Schwester besuchten und erklärten, sie wollten den Truppen des fränkischen Reichskreises beitreten. Um das Jahr 1738 hat es ein Dragonerregiment von Singer in Würzburg gegeben, das auch im Abwehrkampf gegen die türkisch-osmanische Expansion eingesetzt war. Einer der Brüder hieß Johann Marquard Singer von Mossau, der 1735 bis 45 im Würzburger Dragonerregiment von Münster stand, sein Bruder hörte auf den Namen Franz. Der Besuch von Angehörigen wird im weiteren Verlauf noch Thema sein, wenn es um den Unfrieden im Kloster geht.
Der Ort Viechtach zählte damals aus fränkischer Sicht zum Ausland, und Ausländer waren nicht gerne gesehen, zumindest nicht in hoher Zahl. Um das Jahr 1700 sollen auffallend viele Münchnerinnen im Kloster Aufnahme gefunden haben, auch als Kostgängerinnen (Untermieter). Der Fürstbischof war darüber nicht erfreut und untersagte es der Klosterleitung, die ihrerseits Einspruch dagegen erhob.
Ende August 1699 war es dann soweit. Dank Fürsprache einer Adeligen konnte Maria Renata einen von zwei frei gewordenen Plätzen ergattern, weil sich für die Vakanz keine Landeskinder gefunden hatten. Ihr Eintritt ins Kloster geschah offenbar nicht aus freien Stücken. Die damals Neunzehn- oder Zwanzigjährige soll auf Betreiben der Eltern ins Kloster gekommen sein. Religiöse Gründe, wie man es bei einem solch weitreichenden Schritt annehmen könnte, schloss Maria Renata im Nachhinein aus. Sinn und Herz standen ihr nach weltlichen Dingen.
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