Wer wollte sich in diesem Buch nicht porträtieren lassen?
Nebst spontanen oder gut überdachten Zusagen haben die Autorinnen auch zahlreiche Absagen erhalten. Die Motive dafür sind sehr individuell und zu respektieren. Die Gründe jener Frauen, die lieber nicht im Buch erscheinen wollten, lassen sich grob in vier Kategorien einteilen: Erstens gab es Absagen aufgrund der Tatsache, dass die eigene Familie, die Nachbarschaft oder das Berufsumfeld (noch) nicht offiziell über das Lesbischsein der Sportlerin informiert ist. Der Sportsoziologe Eric Anderson nennt diese Art des Umgangs «Don’t ask, don’t tell». 6Dies in Anlehnung an eine Richtlinie, die von der US-amerikanischen Armee jahrelang praktiziert wurde, um mit offen lebenden Homosexuellen in den eigenen Truppen umzugehen. Solche Absagen erhielten wir insbesondere von älteren Frauen, die zwar mit ihren langjährigen Partnerinnen mehr oder weniger offen liiert sind und teilweise auch zusammenleben, aber darüber trotzdem nicht explizit kommunizieren möchten. Eigentlich wissen alle Bescheid, aber es wird nicht benannt. Denn «was nicht sein darf, gibt es auch nicht», wie sich eine Sportlerin ausdrückte, die nicht im Buch erscheinen wollte.
Zur zweiten Kategorie gehören Absagen von Frauen, die überzeugt sind, dass eine solche Auflistung lesbischer Athletinnen dem Frauensport insgesamt eher schadet. Diese Personen haben sich zum Teil jahrzehntelang dafür eingesetzt, dass zum Beispiel Frauenfussball das «lesbische Label» verliert. Sie berichten über unzählige Gespräche als Trainerin mit Eltern, die Angst davor hatten, dass sich ihre Töchter beim Fussball «anstecken» und lesbisch werden würden. Insbesondere in der Gender-Fachliteratur zu «typisch männlichen» Sportarten ist diese Form der Homophobie gut dokumentiert. Die angefragten Personen, welche dem Frauensport mit einem Buchbeitrag «keinen Bärendienst erweisen» wollten, hatten ihre eigene sexuelle Orientierung als Trainerin, Funktionärin oder Athletin nie publik gemacht. Die Mädchen und insbesondere deren Familien sollten nicht noch mehr abgeschreckt werden. Sie wollten sich lediglich als sportliches Vorbild präsentieren. Ein Teil ihrer Identität sollte jedoch – mit bester Absicht, sozusagen zum «Schutz» der Kinder und Jugendlichen – verborgen bleiben. Dieses Verheimlichen kann signalisieren, dass Homosexualität schlecht und nicht nachahmungswert ist. Die Handhabung des Out-Seins, also offen zum eigenen Lesbischsein zu stehen, ist sehr kontextabhängig und persönlich.
Einige noch aktive Spitzensportlerinnen lehnten ein Porträt in diesem Buch ab, weil sie ihre aktuellen und künftigen Sponsoring-Verträge nicht gefährden wollten. Aus Respekt vor diesen jüngeren Frauen werden die spezifischen Sportarten an dieser Stelle nicht genannt. Der wohl bekannteste Sponsoring-Rückzug nach einem Coming-out im Frauensport ereignete sich vor knapp vierzig Jahren in den USA. Billie Jean King, die damals beste Tennisspielerin der Welt, beschloss nach Jahren der Vertuschung offen über ihre Homosexualität zu sprechen. Sie stand unter Druck und befürchtete, von jemandem geoutet zu werden. Entgegen allen Empfehlungen beschloss sie 1981 die Wahrheit zu sagen – mit fatalen Folgen: «Ich habe all mein Geld über Nacht verloren. Jeder einzelne meiner Sponsoring-Verträge wurde innert 24 Stunden aufgelöst. […] Ich musste wieder ganz von vorne beginnen.» 7Kaum zu glauben, dass frauenliebende Sportlerinnen im heutigen Europa solche Konsequenzen noch immer fürchten müssen.
Absagen der vierten und letzten Kategorie können mit der Befürchtung umschrieben werden, allein auf das Lesbischsein reduziert zu werden. In den Medien und der Öffentlichkeit würde nicht mehr die Athletin im Vordergrund stehen, sondern vor allem die «Lesben-Schublade», aus der kein Weg mehr herausführe. Dies beinhaltet auch die Angst vor einer Schmälerung der sportlichen Höchstleistung. Zudem kommt generell die Furcht dazu, als Lesbe als abnormal zu gelten und nicht mehr gemocht zu werden. Auch mit Goldmedaille würde da immer noch dieser «Homo-Makel» bleiben, wie sich eine Athletin ausdrückte, der auch eine mögliche Vorbildfunktion sowie den «Stolz der Nation» beeinträchtigen würde. Dies wirkt sich wiederum auf die Attraktivität und Vermarktbarkeit sowie auf eine damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit aus. Nur sehr weiblich wirkende Athletinnen wie zum Beispiel die mit einem Mann verheiratete Skifahrerin Lara Gut-Behrami kommen als Werbeträgerinnen gewisser Produkte überhaupt infrage. Eher burschikos anmutende Sportlerinnen, ob lesbisch oder nicht, haben dabei das Nachsehen. 8
Grosse Kluft zwischen Richtlinien und Wirklichkeit
Der olympische Gedanke steht für Fair Play, Frieden, Respekt und Solidarität. Dabei gilt die «Olympische Charta» als Schlüsseldokument für unzählige Sportverbände weltweit. Trotz Reformbestrebungen gilt das Internationale Olympische Komitee (IOC) nach wie vor als konservative, überalterte, elitäre, eurozentrische und von Männern dominierte Organisation. Die Charta sprach sich zwar gegen «jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen» aus, doch Homophobie wurde dabei nicht erwähnt. Auf diese Kritik antwortete das IOC stets beschwichtigend, dass die sexuelle Orientierung unter «sonstigen Gründen» natürlich mitgemeint sei. Der internationale Druck auf das IOC stieg weiter an. Die «Agenda 2020» sah in der Folge vor, «sexuelle Orientierung» explizit in den Anti-Diskriminierungsparagrafen aufzunehmen. Ende 2014 wurde die Charta entsprechend ergänzt. Ein wichtiger formaler Schritt war damit erreicht. Nach wie vor besteht aber der Widerspruch, dass sich unter den 204 IOC-Mitgliedländern immer noch Staaten befinden, welche Homosexualität mit der Todesstrafe sanktionieren. 9Gemäss Angaben von Amnesty International stellten 2015 insgesamt 76 Länder gleichgeschlechtliche Beziehungen und nicht geschlechtskonformes Verhalten unter Strafe. 10Mit denselben Herausforderungen muss sich auch der Weltfussballverband FIFA auseinandersetzen. Auch unter den 211 FIFA-Mitgliedern befinden sich Staaten mit homophober Rechtsprechung. Trotz des festgeschriebenen Diskriminierungsverbots aufgrund sexueller Orientierung in den FIFA-Statuten wirft dessen Umsetzung grosse Fragen auf. Wie kann es sein, dass die FIFA-WM 2022 in Katar stattfindet, wo Homosexualität mit dem Tod bestraft werden kann? 11
In der Schweiz ereignete sich der wohl bekannteste Fall von Diskriminierung durch einen Fussballklub aufgrund sexueller Orientierung 1994 im Kanton Zürich. Der Vorstand des FC Wettswil-Bonstetten suspendierte seine Frauenabteilung mit der Begründung: «Der Verein wird ausgenützt für das Ausleben von abnormalen Veranlagungen.» 12Dem Team wurde vorgeworfen, dass zwei Drittel der Spielerinnen homosexuell seien und «jugendgefährdende lesbische Aktivitäten auf dem Spielfeld und in den Garderoben» stattfinden würden. Die Fussballerinnen legten beim kantonalen Verband Rekurs ein, worauf die Auflösung widerrufen wurde. 13Noch im April 1994 lautete der Titel der Fernsehsendung «Zischtigsclub»: «Lesben im Damenfussball: Angst vor homosexueller Ansteckung?». Und der Moderator formulierte die zu diskutierende Fragestellung: «Ist diese Angst berechtigt oder handelt es sich dabei um einen weiteren Akt der Diskriminierung?» 14Danach dauerte es mehr als zwanzig Jahre, bis Swiss Olympic in der Schweiz 2015 die Kampagne «Rote Karte gegen Homophobie im Sport» mit klaren Statements ins Leben rief: «Schwul oder lesbisch zu sein lässt einen nicht langsamer laufen, weniger weit werfen oder springen – die sexuelle Orientierung hindert niemanden an seiner sportlichen Leistungsfähigkeit – die Homophobie schon!» 15Durch internationale und nationale Richtlinien wird Homophobie von den wichtigsten Sportverbänden theoretisch nicht mehr geduldet. Doch zwischen diesen hehren Prinzipien und der realen Umsetzung besteht nach wie vor eine grosse Kluft.
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