GIFTMORD EINE KRIMINALGESCHICHTE VON 1929
PROLOG
PROZESS: Erster Tag
DER FRÜHE WEG DER WAHRSAGERIN
PROZESS: Zweiter Tag
MAIMARKT
PROZESS: Dritter Tag
FRAU MÜLLER GEHT ZUR WAHRSAGERIN
BERICHT DES AARGAUISCHEN POLIZEIKORPS
IN UNTERSUCHUNGSHAFT
PROZESS: Vierter Tag
ERMÜDENDE GERICHTSVERHANDLUNG
AUS DEN PROZESSAKTEN
PROZESS: Fünfter Tag
EIN BAD IN DER WYNA
EPILOG
Zeittafel: Verena Lehner-Kaufmann
Quellen und Literatur
Dank
«Frau Verena Lehner, geborene Kaufmann, hat sich im Sinne der von der Staatsanwaltschaft gestellten Anklage schuldig gemacht des Verbrechens des Mordes in zwei Fällen, des Verbrechens der Unterschlagung, des Verbrechens des qualifizierten Betruges in zwei Fällen und sie wird hierfür verurteilt zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe.»
So lautete das am 5. Oktober 1929 gefällte Urteil nach fünftägiger Prozessdauer des Geschworenengerichts in Aarau. Die Dauer der Gerichtsverhandlung lässt den Schluss zu, dass der Fall Lehner für die Aargauer Justiz von grosser Bedeutung gewesen war. Auch die Bevölkerung in und um Aarau hatte den Gerichtsfall mit starkem Interesse verfolgt. Zugleich war es das Ende einer Karriere. Verena Lehner, die sich als Wahrsagerin betätigt hatte, war während vieler Jahre von einem beachtlichen Kreis von Personen konsultiert worden. Den Schlusspunkt bildeten sieben Zeilen, welche den Prozess von Dienstag bis Samstag in der ersten Oktoberwoche des Jahres 1929 beendeten.
Der Giftmord von Suhr regte die Fantasie von unzähligen Menschen an und bewegte die Region des unteren Wynentals noch Jahrzehnte später. Die Zeitungen berichteten ausführlich über den «Prozess des Jahres». Zu Beginn der 1930er-Jahre verarbeitete die Schriftstellerin Rösy von Känel den Fall literarisch. Es war die Geschichte einer Wahrsagerin, sie lebte in einem kleinen Haus am Waldrand mit 13 Kindern und einem versoffenen Mann – eine unheimliche Frau, deren Untermieter plötzlich starb. Der Hausarzt schöpfte Verdacht, fragte sich, ob Gift eine Rolle spielte und es womöglich Mord war, weil sie an das Geld des Untermieters wollte. Als die «Aargauer Zeitung» 1985 den Roman von Rösy von Känel, geschrieben 1931, abdruckte, sorgte das für Aufregung bei den Nachkommen von Verena Lehner, der vor Jahren verurteilten Wahrsagerin. Sie wollten den Abdruck verhindern, die Fortsetzungsgeschichte erschien trotzdem.
Ich vernahm die Geschichte der Wahrsagerin in jungen Jahren. Dass sie Verena Lehner hiess, erfuhr ich erst viele Jahre später. Meine Grosseltern lebten in Teufenthal und ich besuchte sie regelmässig. Es war Anfang der 1960er-Jahre, ich war damals zehn Jahre alt, als meine Grossmutter mich eines Tages fragte: «Habe ich dir die Geschichte von der Wahrsagerin schon einmal erzählt?» Ich schüttelte den Kopf und schaute sie erwartungsvoll an – sie war eine gute Geschichtenerzählerin:
«Es war einmal eine Wahrsagerin, die lebte in einem Haus in Suhr, weit ab vom Dorf, am Waldrand, dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Es wurde erzählt, dass sie für die Leute, welche zu ihr kamen, durch Kartenlegen in die Zukunft sehen könne. Eine Wahrsagerin nannten sie die einen aus dem Dorf, andere Leute behaupteten, sie sei eine Hexe. Sie habe vieles gemacht, auch Heimliches. Alles wisse man natürlich nicht. Jedenfalls gingen wenige Menschen freiwillig zu diesem kleinen Haus am Waldrand. Wer aber dort vorbeiging, gehörte zur Kundschaft der älteren Frau. Einige Personen aus dem Dorf wussten später zu berichten, dass es Tage gegeben habe, an denen sehr viele Menschen bei der Wahrsagerin vorsprachen. Sie seien zum Teil von weit her gekommen und alle hofften auf einen Blick in die eigene Zukunft. Ausserdem hatte die Wahrsagerin einen Zimmerherrn bei sich aufgenommen. Für ihn kochte sie und machte ihm die Wäsche. Er hatte bei der Eisenbahn gearbeitet und besass ein wenig Erspartes. Ihm vergiftete sie das Essen, weil sie sein Geld haben wollte. Als diese Schandtat bekannt wurde, holte sie der Landjäger ab und man machte ihr den Prozess in Aarau. Die Wahrsagerin wurde vom Gericht verurteilt und kam ins Zuchthaus!»
Wahrscheinlich habe ich danach die Grossmutter mit grossen Augen ungläubig angeschaut, woraufhin sie bekräftigte: «Oh Ja – so war das!»
Gab es Wahres an ihrer Geschichte? Eine Hexe, die einen Mann vergiftete, und das vor nicht allzu langer Zeit? Meine Grossmutter verfügte über viel Fantasie, das wusste ich. Als der Prozess in Aarau über die Bühne ging, war sie noch keine 30 Jahre alt. Bestimmt las sie die ausführlichen Gerichtsberichte im «Freien Aargauer». Hätte ich die Möglichkeit, würde ich sie heute fragen, ob sie an einem der Prozesstage im Gerichtssaal die Verhandlungen mitverfolgt habe oder ob sie sich vorher von der Wahrsagerin im Ryntal einmal die Karten habe legen lassen. Als Zehnjähriger kamen mir diese Fragen nicht in den Sinn. Warum auch? Es war eine gute Geschichte und die Grossmutter hatte sie spannend erzählt.
Über die Jahre hinweg hatte die Geschichte einen bleibenden Eindruck in mir hinterlassen. Vor drei Jahren las ich einen umfangreichen Aufsatz über die Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, dabei erinnerte ich mich wieder an Grossmutters Erzählung. Sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach und nach fielen mir weitere Episoden über die Wahrsagerin ein, welche ich das eine oder andere Mal in der Vergangenheit gehört hatte. Diese Anekdoten hatten früher kein besonderes Interesse von meiner Seite geweckt. Jetzt aber wollte ich mehr erfahren. Nur die Erzählerin von damals, meine Grossmutter, konnte nicht mehr als Auskunftsperson befragt werden. Ich musste meinen eigenen Weg zur Wahrsagerin finden.
Nachdem ich das Jahr des Gerichtsprozesses erfahren hatte, begann ich meine Recherchen in der Kantonsbibliothek in Aarau, wo ich eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln fand. Im «Aargauer Tagblatt», in der «Neuen Aargauer Zeitung», im «Freien Aargauer» und im «Brugger Tagblatt» erschienen während des fünftägigen Prozesses täglich detaillierte Berichte über den Verlauf der Gerichtsverhandlungen. Die Urteilsverkündung am Samstagabend des 5. Oktober 1929 wurde am darauffolgenden Montag ausführlich besprochen. Die tägliche Berichterstattung erfolgte meistens dreispaltig und zum Teil auf der Titelseite der damals nur etwa vier Textseiten umfassenden Aargauer Zeitungen. Die Journalisten waren sich einig, dass nur die angeklagte Wahrsagerin als Mörderin in Frage kam.
Berichte von kleineren Zeitungen fand ich in den Beständen der Kantonsbibliothek nicht, doch im weiteren Verlauf meiner Recherchen stiess ich auf weitere Zeitungsberichte über den Prozess. Das «Wynentaler Blatt» und die «Lenzburger Zeitung» druckten je einen Zwischenbericht und einen umfassenderen Schlussbericht, der aber nicht so ausführlich ausfiel wie in den auflagenstärkeren Aargauer Zeitungen. Die ausgedehnte Zeitungslektüre verstärkte mein Interesse an dieser Geschichte. In mir wuchs die Überzeugung, dass in diesen Zeitungsberichten nicht die ganze, vielleicht sogar nicht einmal die tatsächliche Geschichte der Wahrsagerin wiedergegeben wurde.
Meine erste Anfrage beim Staatsarchiv Aarau wurde abschlägig beantwortet. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass ausgerechnet von diesem Prozess keine Akten vorhanden sein sollten. Ich hakte nach und bekam nach einiger Zeit den Bescheid, dass die Akten gefunden worden seien. Alle Unterlagen sind in zwei grossen Schachteln im Staatsarchiv gelagert. Die Gerichtsverhandlungen waren mit viel Aufwand vorbereitet worden.
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