Seitdem wir eine Zweitwohnung am Genfersee haben und wir beide pensioniert sind, geniesse ich auch die Freiräume, die wir uns gegenseitig geben. Es ist mir wichtig, einfach einmal eine Woche für mich zu sein und nach meinen eigenen Strukturen und Programmen zu leben. Gleichzeitig dürfen wir darauf vertrauen, dass wir immer wieder dort anknüpfen können, wo wir stehen geblieben sind: Ich verliere Karin nicht, und sie verliert mich nicht.
Eva, heute
«Ich bin gerne die, die ich heute bin.»
Karin Rüegg, 77, Aargau
Karin Rüegg (1938) ist Malerin und Dichterin. Nachdem sie ihre Karriere als Opernsängerin aufgegeben hatte, wurde sie in einem Aargauer Dorf leidenschaftliche Primarlehrerin. Sie sagt von sich, sie sei dem Teufel vom Karren gesprungen. Nach mehreren Lebenskrisen ist sie seit über dreissig Jahren mit Eva in einer glücklichen Beziehung. Den Ausdruck «lesbisch» mag sie nicht.
Mit Mitte siebzig begann ich mich zu fragen, welche von meinen Visionen sich im Lauf der Jahre verwirklicht haben. Dabei erinnere ich mich, dass ich mir als Jugendliche vorgestellt habe, einmal in einem Zuhause zu leben jenseits von Enge, mit einem offenen Himmel voller Sterne über mir: einem Ewigkeitsmantel – und zu meinen Füssen die Lichter der Welt.
Heute lebe ich so: Nachts sehe ich die Lichter und den Sternenhimmel über dem Reusstal, und ich fühle mich geborgen. Ich lebe an einem Ort, wo ich zu Hause bin und glücklich, zusammen mit Eva. Das ist die Krönung des Ganzen: Ich bin nicht mehr alleine unterwegs.
Über mein Leben nachdenken, heisst, den «Abstieg in den Brunnen meiner Vergangenheit» wagen. Ich spüre, dass ich zurückgehen muss in eine Zeit, in der es für mich noch keine Worte gab. Als Stütze nehme ich meine Gedichte mit. In Gedichten kann ich immer wieder Fuss fassen in der Welt und Dinge in meinem Leben sinnhaft zusammenbringen. Ich weiss, dass das Vergangene zwar besteht, aber es ist nicht nur gesät, es ist auch geerntet.
Gern erinnere ich mich an den Garten meiner Kindheit. Er war ein Paradies. In ihm stand ein Birnbaum, im Frühling mit allabendlich jubelnder Amsel im Geäst. Schneeglöcklein, Hyazinthen und Hortensien blühten. Es war ein Garten mit Erdbeeren, Johannis- und Brombeeren im Sommer, Trauben im Herbst. Alles nährte mich, vielleicht mehr als meine Eltern mich nähren konnten.
Meine Eltern waren Menschen von sehr unterschiedlicher Herkunft und Wesensart. Mein Vater war aus Angst gemacht, und er verbreitete Angst. Meine Mutter war aus Wörtern gebaut, und sie lehrte mich das Wort. Das Wort war kühl, aber es faszinierte mich.
Mein Vater war ein im Innersten verletzter Mensch. Sein Vater war Alkoholiker, die Mutter zog ihre zehn Kinder mithin alleine gross und arbeitete nebenher auch noch in einer Textilfabrik. Mein Vater war zwar gescheit, aber ohne Halt, ohne innere Heimat.
Meine Mutter stammte aus ganz anderen Verhältnissen, bäuerlichen, und war eng methodistisch erzogen. Sie war eine energische, intelligente Frau. 1937 kam sie als junges Mädchen nach Zürich. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass sie öfter einen Mann beobachtet habe, der an ihrem Haus, in dem sie als Dienstmädchen arbeitete, vorbeiging. Der habe so unzufrieden und mürrisch in die Welt geschaut, dass sie immer wieder gedacht habe: Also so einen wolle sie dann schon nie. Das kam dann allerdings anders, denn der mürrische Mann konnte offenbar durchaus charmant sein. Meine Mutter wurde schwanger. Es habe fünf Monate gedauert, bis sie ihren Zustand erkannt habe.
Ich stelle mir vor, dass ich in der ersten Zeit in meiner Mutter geborgen war. Immerhin bin ich die Frucht einer Liebesbeziehung. Doch in dem Moment, als meine Mutter realisierte, dass sie schwanger war, musste sie zur Salzsäule erstarrt sein. Sie war Meisterin im Verdrängen. Was nicht sein durfte, das war nicht! Von da an wird für mich keine Bewegung mehr möglich gewesen sein. Sie schnürte mich ab. Die Angst vor Enge hat mich mein Leben lang begleitet. Ich wurde mit aller Kraft unsichtbar gemacht, sodass an der Hochzeit, als meine Mutter im achten Monat mit mir schwanger war, niemand diesen Umstand wahrgenommen hat.
Einen Monat später, im April 1938, kämpften meine Mutter und ich drei Tage und drei Nächte lang um unser je eigenes Leben. Wir gewannen beide, zahlten auch beide den hohen Preis einer Depression, die bei meiner Mutter bis zur Geburt meines Bruders andauerte. Ich hatte eigentlich keine Mutter. Ich habe nur eine vage Erinnerung an eine leere, kalte Welt. Meine Mutter konnte keine Beziehung zu mir aufbauen.
Die Leere war während langer Zeit schmerzhaftes Thema meiner Bilder und meiner Gedichte. Es dauerte Jahre, bis mir die Leere zum Raum wurde für Fülle und Erfüllung.
Nicht leer
ist die Leere
der Raum ist sie
dazwischen.
In dieser Zeit hat sich mein Vater meiner in überschäumender Freude bemächtigt. Ich war der Mittelpunkt seines Lebens. Er hatte eine depressive Frau und ein kleines Mädchen, das ihm völlig widerstandslos ergeben war. Mein Vater überschüttete mich mit Zärtlichkeit und Beachtung – viel zu viel. Die abwesende Mutter und der «überschwemmende» Vater wurden für mich zum Trauma. Es ist schwierig, mich gedanklich in dieses Unbegreifliche zurückzuversetzen, das damals mit mir geschah. In der Folge wurde ich zum «Fluchttier»: Nahe Beziehungen ängstigten und ängstigen mich immer wieder. Es fällt mir schwer, mich vertrauensvoll auf Nähe einzulassen.
Erst viele Jahre später während einer Therapie konnte ich die Geschehnisse mit meinen Eltern verarbeiten. «Bin ich existenzberechtigt?» – Mit dieser Frage ringe ich noch immer gelegentlich: Trotz Beziehung, Bildern, Gedichten und Erfolg bin ich auch noch heute nicht immer sicher, ob ich sein darf.
Dennoch habe ich Schritt für Schritt Fuss gefasst in der Welt. Geholfen haben mir dabei das Schreiben von Gedichten und das Malen. Vielleicht ist meine Lebensleistung, dass ich mir die richtigen Werkzeuge, die richtigen Hilfen geholt habe, um zu überleben. Ich bin ausgesprochen organisiert heute, lebe sehr geordnet und bürgerlich. Gleichzeitig habe ich mir meine Eigenwilligkeit bewahrt. Ich schaffe offenbar immer wieder den Spagat zwischen eigen sein und einen Platz haben in der Welt.
1941 bekam ich die Kinderlähmung – und meinen Bruder. Als ich geheilt vom Kinderspital heimkam, hatte sich mein Bruder eingenistet, und die Mutter war von allen Depressionen geheilt. Sie konnte für diesen Sohn auf einmal Gefühle zeigen und Zärtlichkeit. Ich glaubte damals, dass das damit zusammenhänge, dass mein Bruder ein Bub war. Gewieft wie ich war, beschloss ich, selber mehr Bub zu werden als alle übrigen Buben zusammen. Ich rannte schneller als der schnellste Bub im Quartier, kletterte auf die höchsten Bäume, und später in der Schule rechnete ich wie eine Weltmeisterin. Gleichzeitig war ich eifersüchtig auf alles Männliche, neidete Männern ihre vermeintliche Unabhängigkeit, vor allem aber ihr unverdientes Angesehensein. Allen Mühen zum Trotz gelang es mir aber nicht, ein Bub, geschweige denn ein Mann zu werden. Um Ansehen allerdings ging es mir ein Leben lang. Heute, so denke ich, geniesse ich Ansehen als die Frau, die ich geworden bin.
Im Jahr, als mein Bruder zur Welt kam, wurde mein Vater zum Aktivdienst eingezogen und verschwand buchstäblich über Nacht sang- und klanglos von meiner Bühne. Als er 1945 zurückkam, war er ein Fremder für mich: ein Gefährlicher und Gefährdeter. Die Männer im Militärdienst waren völlig lahmgelegt, warteten auf den Krieg, das Gewehr im Anschlag. Mein Vater kam als Alkoholiker zurück. Was sich dann in unserer Familie abgespielt hat, war schwer zu ertragen. Ich hatte unsägliche Angst vor meinem Vater. Jede zweite Nacht kam er betrunken nach Hause und randalierte über Jahre, über Jahrzehnte hinweg. Mein Vater war grundlos und sinnlos eifersüchtig, bedrohte meine Mutter immer wieder, tobte und drohte, uns alle umzubringen. Ich versuchte irgendwie am Leben zu bleiben. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, zeichnete viel und baute mir meine eigene, künstliche Welt.
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