In den 1980er-Jahren machte sich eine Philosophie der offenen Beziehung breit unter dem Titel: «Zärtlichkeit und Treue». August E. Hohler stellte Liebe und Zärtlichkeit höher als eine eng verstandene Treue gegenüber nur einem Menschen. Vor allem geht es ihm um Treue sich selber gegenüber. Letztlich hatten Eva und ich es gerade dieser Diskussion zu verdanken, dass unsere Beziehung zustande gekommen war. Wir waren grundsätzlich offen für das Thema. Es liess sich jedoch nicht auf die Realität übertragen. Eva war und ist im Tiefsten auf eine Beziehung ausgerichtet und zur Untreue nicht fähig. Ich, die ich mit Nähe Schwierigkeiten habe, hätte eher fremdgehen können. Ich habe es auch versucht, aber Evas Schmerz hat mich eines Besseren belehrt.
Obwohl es in unserem Bekanntenkreis seit jeher kaum Frauenpaare gab und gibt, leben wir eingebettet in ein ganzes Netz von Freundinnen und Freunden, die in traditionellen Beziehungen leben. Zärtlichkeit leben wir in unserem Alltag, in unserem Aufeinanderbezogensein.
Ob ich in der Frauenbewegung war? Nein! Ich war nur bedingt an Politik interessiert. Ich führte ziemlich blauäugig und unangepasst mein Lehrerinnen- und Märchendasein. Ich bewegte mich in ganz eigenen, seelischen Kreisen. Ich war nicht ganz von dieser Welt. Erst durch Eva wurde ich politisiert. Auch durch meine Schulkinder wurde ich letztlich gezwungen, mich der Realität zu stellen. Ich wurde zu einer engagierten, auch feministischen Lehrerin.
Mut
ist die Milch
die ich dir gebe
du wirst
eine Fliegerin sein
eine
die Schiffe erbaut
Brücken schlägt
und Bäume umarmt
meine Tochter
dein Name sei
Aufbruch
sei
ich bin
die ich bin
Mit dem letzten Schultag schloss sich dann für mich das Tor zum beruflichen Auftrag, und es war gut. Von da an war ich Dichterin und Malerin. War und bin.
1996 zogen wir aus unserem mehrstöckigen Haus in ein Terrassenhaus, alles bequem auf einem Boden, hell, mit Blick über das Reusstal in den weiten Himmel. Eine Wohnung mit integriertem Atelier – Herz, was willst du mehr? Dieses «mehr» kam allerdings sechs Jahre später auch noch. Am Genfersee drängte sich uns buchstäblich und ungeplant eine Zweizimmer-Ferienwohnung auf – direkt am See. Zum ersten Mal standen wir an meinem 64. Geburtstag in den beiden Räumen zwischen Wasser und Himmel: Wir konnten nicht anders, wir entschlossen uns Hals über Kopf zum Kauf.
Seither verbringen wir die Hälfte des Jahres im Aargau, die andere am Léman. An beiden Orten male ich, und ich kann es immer wieder nicht fassen, was das Leben mir alles schenkt, und ich bin voller Dankbarkeit. Dankbar bin ich vor allem Eva, die mit mir unterwegs ist, die mich Acht samkeit lehrt dem konkreten Alltag gegenüber, den wir täglich bewusst feiern, vielleicht weil wir beide wissen, wie kostbar unsere gemeinsame Zeit ist – und wie begrenzt.
Karin, 48
2009 liessen Eva und ich unsere Partnerschaft eintragen. Was wir nicht wussten: Auf dem Standesamt war für gleichgeschlechtliche Paare nicht vorgesehen, «Ja» zueinander zu sagen. Doch genau dieses «Ja» war uns wichtig. Ich unterbrach also die Standesbeamtin mitten in ihrer Zeremonie und fragte sie, wie das jetzt sei mit dem «Ja». Die Beamtin stutzte für einen Moment und war dann bereit, Platz zu schaffen für unseren Wunsch. Unter Tränen zelebrierten wir vor den versammelten Gästen unser «Ja».
Die reformierte Kirche in unserem Dorf hätte uns erlaubt, die Trauung öffentlich in der Kirche abzuhalten – mit Glockengeläut. Ich wusste jedoch rasch, dass ich dafür zu dünnhäutig bin, dass ich emotional an meine Grenzen gekommen wäre. Deshalb beschränkten wir uns auf das Standesamt. Doch unser Pfarrer kam zu einem späteren Zeitpunkt mit uns nach Zürich ins Fraumünster. Unter dem blauen Chagall-Fenster mit der Jakobsgeschichte segnete er uns. Diese Segnung bedeutet uns auch heute noch viel. Wenn wir nach Zürich fahren, besuchen wir regelmässig «unser» Chagall-Fenster.
Nun stellt sich noch die Gretchenfrage: Wie halt ich’s mit der Religion? Die Frage nach Gott beschäftigt mich, seit ich mit drei Jahren zum ersten Mal die Sonntagsschule besuchte. Eine Antwort auf mein Fragen «Wie ist Gott?» bewegt mich. Sie lautet: «Sie ist schwarz.» Das will heissen: Gott ist anders. Anders als wir sie oder ihn uns denken – nicht personal – und dennoch tragend, Leben schaffend und tröstlich.
Wie wollte ich leben ohne den Trost, dass da etwas ist, das mich sieht und meint? In diesem Sinn glaube ich an Gott, wider alle Vernunft.
Im Lauf meines Lebens ist mir klar geworden, dass meine Mutter mich eigentlich immer wieder sehr bewundert hat: Für meine Eigenwilligkeit, meine eigene Farbe, meine Originalität. Letztlich, denke ich, sind meine Mutter und ich aneinander gewachsen. Ich lebte eine lebenslange Sehnsuchtsgeschichte mit ihr, trotz – oder vielleicht wegen – unserer problematischen Anfangsbeziehung. Meine Liebe zu ihr war lange geprägt von meinem ungestillten Wunsch nach Akzeptanz und Gesehenwerden. Ich sehnte mich nach Mutterliebe, lange nachdem ich sie bereits hätte erleben können. Erst die vorbehaltlose Liebe meiner Mutter für meine beiden Partnerinnen zeigte mir die unauflösliche und bedingungslose Treue und Liebe meiner Mutter zu mir und meinem Weg. Es gab nie auch nur den kleinsten Disput, bei welchem meine Mutter bezweifelt hätte, ob ich auf dem rechten Weg sei. Mit dreissig hatte ich ihr am Telefon mitgeteilt, dass ich Frauen liebe. Es ist unglaublich, wie loyal meine so streng und eng erzogene Mutter mich begleitet hat auf dem Weg mit diesen Frauen. Sie hat beide geliebt. Sie liebte Ursula, sie liebte Eva. Sie kam zweimal im Jahr zu Eva und mir in die Ferien. Sie genoss jedes Zusammensein mit uns, nahm Anteil an unserem Leben und mischte sich nie in unsere Angelegenheiten ein.
Karin, 48
Für meinen Vater war Frauenliebe kein Thema. Er wird mich erkannt haben, aber er sprach bis zu seinem Tod 1971 nicht darüber. Viel schwieriger war und ist mein Weg für meinen Bruder. Obwohl er Eva akzeptiert und achtet, ist ein Gespräch über mein ureigenstes Gewordensein mit ihm nicht möglich. Mit Evas Kindern ist die Situation in den langen Jahren unseres Zusammenseins geklärt und gut, und ich freue mich am Gedeihen unserer Enkel.
Vor drei Jahren mussten wir Abschied von meiner Mutter nehmen. Sie hat ihr Leben gemeistert, ohne Ärger, ohne Klagen. Sie war uns bis in ihr hohes Alter ein bewundernswertes Vorbild. Doch:
Zerbräche nicht
die irdene Schale
es befreite sich nicht
schmetterlingsleicht
die Seele
ins hellere Licht
Mit Eva lebe ich unsere Beziehung offen. Als Eva in mein Leben kam – 1981 –, war sie fraglos die Frau an meiner Seite. Ich kommunizierte das, nicht provokativ, sondern ganz selbstverständlich. Vielleicht waren wir für manche Dorfbewohner ein Stück weit eine Provokation. Wir bekamen jedoch nie irgendwelche Vorbehalte zu spüren. Es gab keinen Anlass für Spekulationen oder Geheimniskrämereien. Dass ich eine so sympathische, schöne Frau an meiner Seite habe, hätte für einen Skandal nichts hergegeben. Ich benannte meine Liebe nicht, wir leben sie. Das Wort «lesbisch» mag ich gar nicht. Ich liebe Frauen, ich liebe Eva.

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