Die mit Abstand brisanteste, jedenfalls folgenschwerste jener ersten fünf Notizen, die Hood an der Taubenhalde ablieferte, betraf Mur and Mary. Sie hat folgenden Wortlaut: 14
MUR und MARY (GRU-Codenamen)
1. Im Lauf des Jahres 1964 stand der GRU Resident in Bern, Wassili Konstantinowitsch Denissenko, mit einem in Lausanne wohnenden Ehepaar in Kontakt. Die Eheleute wurden im Juni 1964 bei einem Treffen in St. Gallen einem anderen GRU-Führungsoffizier übergeben. Dieser Offizier war vermutlich Viktor Nikolajewitsch Issaev. 15(Penkowski hatte Issaev als Angehöriger des GRU-Illegalen-Direktorates identifiziert).
2. Unsere Informationen sind nur fragmentarisch, doch rapportierte Issaev eine Äusserung des MUR, wonach dieser gerne schweizerischer Militärattaché in Moskau sein würde, «um russisches Leben und die Bräuche studieren zu können». Issaev rapportierte auch, dass MUR wegen seiner Kontakte zu Sowjets Befürchtungen hege und ihn (Issaev) ersucht habe, ihren Kontakt zu verbergen. Ein Hinweis auf den clandestinen Aspekt der Beziehungen des MUR/MARY zu Denissenko und Issaev wird durch ihre Kontakt-Arrangements enthüllt. Issaev organisierte Kontakte durch Mary, wobei er seinen (Issaev’s) Vornamen (Viktor) oder einen französischen Namen verwendete.
3. Mary könnte russischen Ursprungs sein, da sie von ihrem Gatten als «ein Opfer der russischen Revolution von 1917» bezeichnet wurde, wobei er jedoch vermerkte, dass sie keinen Hass gegen die Sowjetunion hege. Mary wurde in der frühen Jugendzeit in einer Pensionats-Schule in Fribourg erzogen und betrachtet das Französische als ihre Muttersprache. Sie spricht kein Russisch. Ihr Vater soll ausgedehnte Verbindungen im schweizerischen Generalstab gehabt haben. Mary schloss die Sekundarschule in Bern ab und erhielt durch ihren Vater eine Stelle als Sekretärin in einer der Abteilungen des schweizerischen Generalstabes, wo sie MUR kennenlernte.
4. Anfänglich hatte Issaev das Gefühl, dass MUR und MARY nicht mit ihm zusammenarbeiten wollten; nach Erhalt eines Briefes von Denissenko – anfangs Oktober 1964 – lieferte MUR jedoch dem GRU ein Exemplar eines Berichtes über Leute in Schlüsselstellungen im schweiz. Generalstab. Issaev betrachtete die Eheleute nicht als ausgebildete oder rekrutierte Agenten und er war der Ansicht, dass es weder möglich, noch durchführbar sei, Druck auf sie auszuüben. Issaev hatte jedoch den Eindruck, dass sie habgierig seien und dass dieser Charakterzug ausgebeutet werden könnte.
5. Denissenko’s Nachfolger als Militärattaché und GRU-Resident war Pavel Michailowitsch Zapenko, welcher am 16. Juni 1964 ankam. Zapenko sagte Ende 1964, MUR und MARY hofften eine Reise nach der Sowjetunion zu machen und das GRU werde versuchen, sie vor der Reise einige wenige, wichtige Dokumente beschaffen zu lassen, damit das GRU eine realistische Basis für die Vornahme der Rekrutierung dieser Leute während ihres Aufenthaltes in der Sowjetunion haben würde.
Tappen im Dunkeln
Damit war die Schweizer Abwehr im Besitz jenes «Tipps», der die Jeanmaire-Affäre ins Rollen brachte.
Einstweilen rollte allerdings gar nichts.
Die Beamten der Bupo standen vor einem Rätsel. Sie hatten keine Ahnung, wer sich hinter MUR und dieser MARY verstecken könnte.
Was tun? Abwarten? Aktiv werden? Die Abwehr steckte in einem Dilemma. Einerseits hatte sich Mister Hood persönlich an den Aarestrand begeben. Dies konnte nichts anderes bedeuten, als dass die Amerikaner erwarteten, die Schweizer würden dem verdächtigen Offizier «Mur» das Handwerk so rasch als möglich legen. Andererseits hatte derselbe Hood, um die Sowjets keinesfalls nervös zu machen und die Quelle zu schützen, die Parole ausgegeben: «keine falsche Bewegung».
Die strikte Auflage des Amerikaners, auf forsches Vorgehen zu verzichten, hatte ihre Gründe – und die lagen möglicherweise bei dem in der «Mur and Mary»-Notiz erwähnten Penkowski.
Oleg Penkowski spielte im west-östlichen Nachrichtenkrieg, wenn auch nur für kurze Zeit, eine zentrale Rolle. In der Trophäensammlung, die die CIA vorzuweisen hat, gehört er jedenfalls zu den glanzvolleren Stücken.
Artillerieoffizier Penkowski hatte sich in der Dserschinski-Militärakademie zum Fachmann auf dem Gebiet der Raketentechnologie weitergebildet. Er spekulierte darauf, General zu werden. Die Beförderung kam nicht. Und zwar deshalb nicht, wie er vermutete, weil sein Vater im Bürgerkrieg auf der Seite der «Weissen» gegen die Bolschewiken gekämpft hatte. Die Enttäuschung darüber und sein Bedürfnis, gleichwohl eine herausragende Rolle zu spielen, bewogen ihn 1961, für den Westen zu arbeiten. Er stellte Kontakte zur CIA und zum britischen MI6 her, denen er Tausende von Seiten hochklassifizierter Daten über sowjetische Strategien und den Stand östlicher Raketenentwicklung lieferte. 16Seine detaillierten Angaben erlaubten es den Amerikanern, die sowjetischen Absichten während der Berlin-Krise (1961) und der Kuba-Krise (1962) realistisch einzuschätzen. Im Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Raketenkrise, wurde Penkowski von den Sowjets enttarnt, im Mai des folgenden Jahres vor Gericht gestellt, zum Tod verurteilt und exekutiert.
Nach Angaben von Kommissär Hofer gingen die ersten Hinweise auf Jeanmaires Kontakte mit den GRU-Agenten auf eben diesen Oleg Penkowski zurück – wohl eher indirekt als direkt. Die Informationen, die Penkowski geliefert hatte, ermöglichten den westlichen Diensten, auch zahlreiche in aller Welt tätige Sowjetagenten zu enttarnen und, wie es in der Fachsprache heisst, umzudrehen. Solche Personen, im Jargon «Maulwürfe» genannt, gewährleisteten den Fortgang des Informationsflusses auch über den Tod des Hauptinformanten hinaus. Dies erklärt, weshalb die CIA ihre Quellen unter keinen Umständen gefährden wollte – schon gar nicht wegen ein paar den Kleinstaat Schweiz betreffender Lappalien, die erst noch mehr als zehn Jahre zurücklagen.
So sass die Bupo auf dem brisanten «Tipp», ohne recht zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Ihre Büros an der Taubenhalde jedenfalls scheint jener Hinweis nicht gerade in einen Taubenschlag verwandelt zu haben. Bern bewahrte vorerst Ruhe. Das mochte auch damit zu tun haben, dass die Informationen, die die CIA in der Vergangenheit geliefert hatte, nicht immer über alle Zweifel erhaben waren. Andere westliche Abwehrdienste bekundeten für das CIA-Material ebenfalls nur mässige Wertschätzung. 17Umgekehrt gingen in Bern Meldungen befreundeter Stellen ein, die Fälle aus derselben Quelle bearbeiteten und Abwehrerfolge verzeichneten. 18Und die Bupo testete ihrerseits die Bonität des Materials anhand des ehemaligen Walliser Polizisten B. (Deckname «Belo»), der überführt und bestraft werden konnte.
Aber Mur und Mary?
Sie verharrten im Zustand von Phantomfiguren. Der Winter kam ins Land, der Frühling, und noch immer tappte die Schweizer Abwehr im Dunkeln.
Am 16. Mai 1975 kam Bewegung in die Sache. An jenem Frühsommertag sprach CIA-Verbindungsmann Paul van Marx an der Taubenhalde vor und unterhielt sich eingehend mit den Kommissären Hofer und Louis Pilliard. Der damals 47-jährige Pilliard, ein zupackender und wortwie schreibgewandter Polizist, sollte in den Ermittlungen gegen Mur und Mary die zentrale Figur werden. Während vierzehn Jahren hatte er bei der waadtländischen Sicherheitspolizei gearbeitet und dann zur Bundespolizei gewechselt, wo er in zwölfjähriger Dienstzeit Erfahrungen in der Gegenspionage sammelte. Drei Jahre später, als Zeuge im Jeanmaire-Prozess, charakterisierte er sich selbst als Spezialist für die «sowjetischen Probleme in der Schweiz». 19
Hofer und Pilliard versuchten, van Marx «die Wichtigkeit der meisten Fälle für uns» bewusst zu machen. Sie verlangten von der CIA eine Bewertung der Quelle und wollten wissen, wie es um deren Zugänglichkeit stehe, ob es sich um einen «Abspringer» oder um einen «Doppelagenten» handle und «wieweit wir grünes Licht für eingehende Ermittlungen, evt. Befragungen haben». 20In zwei Fällen, erklärten sie van Marx, seien immerhin die nationalen Interessen und die Sicherheit der Schweiz tangiert. Die XX-Verbindung möge also prüfen, ob die Sicherheit der Quelle oder die Interessen der Schweiz Vorrang hätten. Und weil die beiden Beamten endlich Klarheit haben wollten, unterbreiteten sie ihrem Kollegen einen schriftlichen Fragebogen, in dem einleitend festgestellt wird:
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