Ich möchte hier einen kleinen Einblick geben, wie ich zur TCM gekommen bin und sie zum Nutzen meiner Patienten mit der Schulmedizin verbinde. In der reinen Schulmedizin hat mir etwas gefehlt. Oftmals kamen Patienten mit Befindlichkeitsstörungen, die ich so nicht einordnen und daher nur unzureichend behandeln konnte. Für diese Befindlichkeitsstörungen wie beispielsweise Stuhlunregelmäßigkeiten oder Juckreiz gibt es in der Schulmedizin keine Therapieansätze. Oftmals werden Patienten dann als »gesund« nach Hause entlassen, weil laborchemisch und untersuchungstechnisch nichts zu finden ist. Das frustriert beide Seiten. Mein Patient stellt sich selbst infrage, nimmt den Gedanken an, »er bilde sich seine Symptome bloß ein«, und beginnt daraufhin, an seiner Selbstwahrnehmung zu zweifeln. Das Vertrauen in den eigenen Körper bröckelt.
STOPP! Wenn wir unseren Patienten wirklich helfen wollen, dann sollten wir sie in ihrer Selbstwahrnehmung und Eigenverantwortlichkeit schulen, damit sie langfristig gesund bleiben und unabhängig werden. Und genau hier setzt die Traditionelle Chinesische Medizin an. Befindlichkeitsstörungen können anhand Anamnese und Diagnostik benannt und behandelt werden. Es gibt eine Erklärung für jegliches Unwohlsein. Der Patient fühlt sich ernst genommen und verstanden und kann selbst lernen, wie er in Zukunft solche Situationen eigenständig angeht.
Chinesische Medizin behandelt, damit der Körper nicht zu sehr ins Ungleichgewicht kommt. Bei Krankheiten, die die westliche Medizin behandelt, ist es meist schon zu spät, d. h. das Ungleichgewicht ist schon so stark, dass eine Krankheit entstanden ist.
Im Rahmen der TCM werden also die eigene Wahrnehmung und damit die Selbstverantwortung geschult. Wenn die Menschen verstehen, wie der Körper funktioniert, können sie besser mit ihm zusammenarbeiten. Sie bekommen ein Gefühl dafür, was ihnen guttut und was nicht, damit sie dem nächsten Ungleichgewicht früher entgegensteuern können.
»Handle, bevor die Dinge da sind. Ordne sie, bevor die Verwirrung beginnt.« 5
Laotse
Das Medizinsystem hier bei uns im Westen ist das System der naturwissenschaftlichen Schulmedizin. Es ist das an den Universitäten gelehrte und in den meisten Praxen ausgeübte System. Es ist mehrere Hundert Jahre alt, ein wesentlicher Mitbegründer war im 19. Jahrhundert der Arzt Rudolf Virchow, der Krankheiten auf die kleinste bekannte Ebene zurückführte, nämlich die Zelle. Durch das Sezieren verstorbener Menschen im Krieg wurde der menschliche Körper aufs Genaueste untersucht, und es entstand die Anatomie. Der Körper wurde als komplexe Maschine dargestellt, die aus verschiedenen Einzelteilen besteht. Diese Einzelteile hatten Normwerte, die mit abweichenden Werten von erkrankten Menschen verglichen wurden. Eine schulmedizinische Diagnose wurde gestellt, wenn die subjektiven Symptome des Patienten in einen objektiv messbaren Wert überführt und dargestellt werden konnten. Dafür standen diverse gut ausgeklügelte medizinische Apparate zur Verfügung. Mit der industriellen Revolution ermöglichten fortschreitende technologische Entwicklungen ein immer breiteres Verständnis der Strukturen des Körpers und seiner physiologischen, biologischen und genetischen Funktion.
Das Weltbild ist anatomisch-mechanisch, und es wird davon ausgegangen, dass das Verstehen und Manipulieren einer kleinen Einheit der richtige medizinische Ansatz ist. Die naturwissenschaftliche Medizin hat große Leistungen für die Gesundheit der Welt erbracht. Der finanzielle und wissenschaftliche Aufwand stellt unser Gesundheitssystem allerdings vor große Probleme. Gleichzeitig wächst die Zahl der chronischen Krankheiten, denen diese Medizin nur unzureichend helfen kann.
Die TCM ist eine über 2000 Jahre alte gut überlieferte Wissenschaft. Sie ist ein gut etabliertes System aus Wissen und praktischer Erfahrung, in dem über Jahrhunderte gesammelte empirische Beobachtungen mit daoistischen Theorien verknüpft wurden.
Die Vorstellungen der chinesischen Physiologie sind stark dadurch charakterisiert, dass anatomische Sektionen im alten China verboten waren. Daher beruhen die Erkenntnisse auf genauesten Beobachtungen von Funktionen, die durch naturphilosophische Hypothesensysteme verknüpft waren.
Manches an diesem System der chinesischen Medizin erscheint vom westlichen Wissensstand aus zunächst unverständlich – aber gerade durch die Konzentration auf die Betrachtung von Funktionen entstand auch eine Verfeinerung und Vertiefung der vorhandenen Beobachtungsmöglichkeiten. Das Modell der TCM ist in sich logisch und befähigt den Arzt, Symptome zu klassifizieren, Diagnosen zu stellen und Therapien vorzunehmen. Die chinesischen Ärzte der Antike sahen in ihrem naturphilosophisch orientierten daoistischen Weltbild 6den Menschen als Bestandteil der Natur in einer intensiven Wechselbeziehung zu seiner Umwelt. Die Natur befindet sich im ständigen Wandel, in fortwährender Bewegung, Veränderung und Umwandlung. So verändert sich die Vegetation abhängig von den Jahreszeiten in immer wiederkehrenden dynamischen Zyklen. Ähnlich durchläuft der Mensch in seinem Leben periodische Entwicklungsphasen von der Geburt über Wachstum und Reifung bis zum Tod.
Die TCM basiert auf fünf Säulen, die alle dieselben Grundlagen benutzen:
Akupunktur
Kräuterlehre
Ernährungslehre
Qi Gong (Bewegungs- und Atemtechnik)
Tuina (Massagetechnik)
Es ist ein gutes frühes Beispiel für interdisziplinäre Medizin, denn diese einzelnen Therapieformen greifen ineinander. Gleichzeitig wird der Patient in Ernährungs- und Bewegungslehre mit einbezogen und geschult, sodass die Eigenverantwortlichkeit gefördert wird.
Ein wichtiges Grundprinzip, auf das alles zurückzuführen ist, ist die Polarität von Yin und Yang.
Yang (die weiße Fläche des Symbols) bezeichnet das Männliche, das Aktive, die Sonne, die Hitze, den Tag und die Erregung, es hat energetische Qualitäten, z. B. Bewegung, Yin (die schwarze Fläche des Symbols) wird assoziiert mit dem Weiblichen, dem Mond, der Ruhe, dem Stillstand, der Dunkelheit, der Kälte, dem Empfangen und dem Nähren – es hat eher inaktive Qualitäten. Es sind zwar Gegensatzpaare, aber nichts ist absolut. Yang oder Yin, ihr Gegensatz ist eher relativ. Yin und Yang lösen einander in rhythmischem Wechsel ab, so wechselt Tag mit Nacht, Sommer mit Winter und Wachstum mit Verfall. Außerdem sind es Wechselbeziehungen, d. h. das eine kann nicht ohne das andere existieren, sie nähren einander und bilden ein dynamisches Gleichgewicht. So kann der Tag nicht ohne die Nacht sein, und es gibt keine Aktivität ohne Ruhe und keine Einatmung ohne Ausatmung. Sie wandeln sich ineinander, wechseln sich ab, wachsen in zyklischer und balancierter Art und Weise und erreichen einen ausgewogenen Zustand durch gegenseitige Kontrolle und Beeinflussung. Der Wechsel der Jahreszeiten illustriert dieses Konzept ganz gut. Außerdem besagt die Yin-und-Yang-Lehre, dass alle Lebewesen und Dinge jeweils einen gegensätzlichen Yin-Yang-Aspekt enthalten. So enthält jede Frau einen männlichen Anteil und jeder Mann einen weiblichen Anteil.
Читать дальше