Während Gelehrte in England und Schottland die Theorie des Freihandels und der freien Marktwirtschaft entwickelten, praktizierten Schweizer Kaufleute und Handelsgremien den Freihandel sowohl im modernen wie auch im mittelalterlichen Sinne. Bis zum Ende der napoleonischen Kontinentalsperre handelten die Schweizer Kaufleute im wahrsten mittelalterlichen Sinne «frei», nämlich ausserhalb der von Napoleon diktatorisch erklärten Handelssperren, als Schmuggler. Danach konnte die Eidgenossenschaft ihre Aussenwirtschaftspolitik wieder souverän gestalten. Mit der Mediationsverfassung von 1803 bekam die Tagsatzung auch das Recht, Handelsverträge mit anderen Ländern abzuschliessen. Im Dezember 1813 gab sich die Schweiz erstmals einen eigenen Grenzzolltarif, hauptsächlich, um geringe Steuern zu erheben. Dieser hielt aber nur gerade acht Monate. Gegen ihn hatte sich eine Volksbewegung gerichtet, an deren Spitze das kaufmännische Directorium St. Gallen stand. Es wollte für Rohbaumwolle gar keine Zölle bezahlen und fühlte sich stark genug, auch gegen englische Manufakturkonkurrenzprodukte zu bestehen. Als die europäischen Grossmächte am Wiener Kongress 1815 ein weiteres Mal die Souveränität der Schweiz bestätigten, war diese eine Insel des modernsten Freihandels in Europa. Die Tagsatzung erhob lediglich einen «Grenzbatzen» auf maschinengesponnenes Baumwollgarn und Tücher, der so tief war, dass er keine abschottende Wirkung entfalten konnte.
Während der lang andauernden Kontinentalsperre wurden jedoch bedeutende Weichen für die Schweizer Wirtschaft gestellt. Gezwungenermassen erschlossen Schweizer Kaufleute neue Absatzmärkte ausserhalb Europas, zunächst hauptsächlich in den noch jungen USA. Diese globale aussenwirtschaftliche Ausrichtung machte die Schweiz für die nächsten zwei Jahrhunderte zum Land mit dem europaweit höchsten Pro-Kopf-Export sowie den höchsten Direktinvestitionen ausserhalb Europas, insbesondere auch in Ländern des Südens. Auch die Binnenwirtschaft, die schweizerische Textilindustrie, erhielt durch den Wirtschaftskrieg neue Impulse. Der Ausschluss der britischen Konkurrenz vom kontinentalen Markt förderte die Entwicklung der mechanischen Baumwollspinnerei in der Schweiz. 1808 setzte eine Gründungswelle ein, welche die Anzahl Betriebe mit mechanischer Spinnerei im Kanton Zürich bis 1814 auf 60, im Kanton St. Gallen auf 17, im Appenzellerland auf 7 ansteigen liess. Sich am britischen Vorbild orientierende Unternehmer wie Johann Caspar Zellweger im appenzellischen Trogen oder Hans Caspar Escher in Zürich fanden trotz der französischen Handelshemmnisse in Deutschland neue Absatzmärkte und erzielten während der Kriegskonjunktur hohe Gewinne. Gleichzeitig verzögerte die Kontinentalsperre den völligen Niedergang der Handspinnerei.
Nach dem Sturz Napoleons und der Aufhebung der Kontinentalsperre überfluteten billige, britische Baumwollwaren den Kontinent und lösten in der Eidgenossenschaft, die sich nicht durch Zölle schützte, 1816/17 eine schwere Wirtschaftskrise aus, die gleichzeitig mit dem Jahr ohne Sommer auch eine schwere Hungerkrise war. Die napoleonischen Kriege waren vorbei, aber der Protektionismus der europäischen Staaten ging auch nach dem Wiener Kongress 1815 ungebrochen weiter. In den 1820er-Jahren befand sich die Schweizer Wirtschaft in bedrohlichem Zustand, nur Deutschland, Skandinavien sowie Mittel- und Süditalien standen dem Schweizer Export offen. Der Druck der Söldnerverfügbarkeit hatte kaum noch Bedeutung. Zudem fiel der Sold unter die Kompetenz der Kantone, Handelsverträge unter die Kompetenz der Tagsatzung.
Die 1801 / 02 erbaute, erste mechanische Spinnerei der Schweiz in der Hard in Winterthur, um 1820.
Der Merkantilismus war zwar mit Napoleon verbannt worden, doch nun übten sich die europäischen Mächte im moderneren Protektionismus. Wiederum zahlten sie dafür die Zeche. Bereits 1820 hatte die Schweiz Spanien, die grosse Kolonialmacht der Frühen Neuzeit, punkto Handelsvolumen überholt, ebenso Belgien und Österreich. Hinter England war die Schweiz führend in mechanischer Baumwollspinnerei. 1827 verzeichnete allein der Kanton Zürich über hundert Spinnereien, die rund 5000 Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigten. Die Erfahrungen während der Kontinentalsperre prägten die Schweizer Wirtschaft und machten sie zum Global Player sowie politisch skeptisch gegenüber den europäischen Grossmächten. Gleichzeitig wurde die Schweiz dank französischer Denker im Exil ein «hub» der liberalen Ideen. Die Idee des freien Bürgers und seiner Tugenden ist untrennbar mit der Idee des Unternehmers und der freien Marktwirtschaft verknüpft. Doch die Schweizer Exportindustrie sah sich ab 1834 wieder vermehrt mit erneutem Protektionismus konfrontiert. Diesmal durch den Deutschen Zollverein, der sich schnell ausdehnte und bald schon auch die süddeutschen Königreiche und Fürstentümer umfasste. Damit verlor besonders die Nordschweiz einen zentralen Absatzmarkt. Die Wirtschaft war existenziell bedroht. Doch statt dem Deutschen Zollverein beizutreten, forderten liberale Kräfte die Schaffung eines eidgenössischen Wirtschaftsraums zur Kompensation der entstandenen Nachteile.
Die Groupe de Coppet und die liberale Geisteshaltung
Die Groupe de Coppet war eine Gruppe europäischer Intellektueller um die Denkerin Germaine de Staël, die im Schloss Coppet im Schweizer Exil das liberale Gedankengut entwickelte und pflegte. Das Schloss Coppet gehörte dem Genfer Bankier und Vater de Staëls, Jacques Necker, der das Gut 1784 erworben hatte. Der Genfer war in Paris bis zum Schatzkanzler König Ludwigs XVI. aufgestiegen. 1781 machte Necker den Zustand der Staatsfinanzen und den drohenden Bankrott Frankreichs publik. 1804 verbannte Napoleon Neckers Tochter Germaine de Staël aufgrund ihrer Schriften, die sich sowohl gegen die Monarchie wie auch gegen die Herrschaft der Jakobiner wandten, aus Paris. De Staël zog sich auf das Schloss Coppet zurück. Während der Zeit Napoleons beherbergte sie dort berühmte französische Exilanten und Schweizer Denker, darunter Benjamin Constant oder Jean de Sismondi. Constant veröffentlichte die Grundlagenwerke «Sur la possibilité d’une constitution républicaine» (1803) und «Principes de politiques» (1806), die einen parlamentarischen Verfassungsstaat und ein freies Unternehmertum vorsahen. Constant, der die Schreckensherrschaft der Jakobiner nach der Französischen Revolution erlebt hatte, sah den Liberalismus durch seine eigenen Werte gefährdet. Einer ungebildeten, armen Masse das Stimm- und Wahlrecht zu erteilen, betrachtete Constant als Gefahr für die liberale Staatsform. Er entwarf die moderne staatsphilosophische Grundlage für das aus der Antike bekannte Zensuswahlrecht, das die Kantone vor 1848 in verschiedensten Formen praktizierten.
Der Triumph des Liberalismus (1830–1869)
Die Grundlagen des Wohlstands
Eine der raren internationalen Studien über die Geschichte der Schweiz trägt den Titel «The Triumph of Liberalism» (1988). Der amerikanische Historiker und Professor an der Stanford University, Gordon A. Craig, beschreibt darin vor allem die Rolle Zürichs als Motor der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Modernisierung, nicht nur der Schweiz, sondern ganz Europas. Die Schweiz sei Vorbild und Labor gewesen für das liberale «nation building» in Europa. Auch für die britischen Freihändler galt die Schweiz als Vorbild. Bürger in den Nachbarstaaten der Schweiz forderten in wiederum schmerzhaften Revolutionen um das Jahr 1830 moderne Nationalstaaten. Derweil bewahrten Schweizer Kaufleute ihr in der Zeit der Kontinentalsperre erworbenes Misstrauen gegenüber ihren europäischen Nachbarn. Sie fokussierten weiterhin auf aussereuropäische Märkte auf dem ganzen Globus. Gleichzeitig verhinderten die politische Souveränität der einzelnen Kantone und das Fehlen eines Zentralstaates die imperiale Expansion. Die Schweiz kolonialisierte als eines der wenigen Länder Europas keine Gebiete im globalen Süden.
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