Schon seit dem Altertum haben Generationen von Denkern versucht, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen; uns ist heute klar geworden, dass diese Frage im Letzten nicht logisch zwingend zu beantworten ist, es kann nur um Plausibilitäten oder aber persönliche Erfahrungen gehen. Religion kann man als ein zusammenpassendes System deuten, zu dem neben rituellen Vorschriften vor allem eine Welterklärung, eine Handlungsanweisung (Ethos) und eben Spiritualität gehören. Mit Spiritualität ist hier die Art gemeint, in der Glaubenstraditionen individuell und in Gemeinschaft gelebt werden. Wenn es gelingt, Religion auf die Basis einer zeitgemäßen Welterklärung zu stellen, so hat dies wichtige Auswirkungen auf ethische Verhaltensweisen und Spiritualität – ein Brückenschlag zwischen der Welt der Naturwissenschaft und jener der Religion, ein Brückenschlag zwischen Alltagsleben und Sonntagsleben wird möglich.
Neueste Ansätze, sowohl von naturwissenschaftlicher Seite als auch von theologischer bzw. spiritueller Seite, erkennen zunehmend, dass das Auseinanderleben von Naturwissenschaft und Spiritualität ein Fehler war. Die Wege mögen unterschiedlich sein, aber je weiter die menschliche Erkenntnis fortschreitet, je näher wir dem Gipfel kommen, desto enger führen diese getrennten Wege wieder zusammen. Auch Einstein strebte nicht nur ein physikalisches, sondern im besten Sinne interdisziplinäres, umfassendes Weltbild an, wie er in seinem bekannten Satz formuliert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.“
Einsteins Theorien waren zwar schwer verständlich, konnten sich aber schon zu seinen Lebzeiten zumindest in der Fachwelt durchsetzen, Teilhards innovative Ideen durften überhaupt erst nach seinem Tod für eine breitere Öffentlichkeit publiziert werden. Aber für ein umfassendes heutiges Weltbild sind beide unverzichtbar. Dieses Buch soll eine Einladung sein, Teilhards Ideen im Lichte der gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte weiterzudenken und in die Lebensweise der modernen Menschen einfließen zu lassen.
1. Von Hildegards Ei zum verschwundenen Mittelpunkt
Die Geschichte der christlichen Theologie und auch der christlichen Mystik ist reich an Abhandlungen über das Verhältnis Gott und Mensch oder auch Gott und Welt. Die Erde und alles, was man an belebten und unbelebten Elementen auf ihr erfahren konnte, war nicht eigentlich Thema der Theologie, sondern Lebensraum, der den Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies zugewiesen war. Die Verhältnisse schienen langfristig unveränderlich zu sein. Das Ertragen von mühsamer Arbeit, Leid, Unglück, Krankheiten und Tod war Strafe Gottes, die wir wegen unserer Sünden zu erleiden hatten. Das Ertragen von Leid und Schmerz „in diesem Jammertal“ konnte nur insofern wichtig sein, als man sich damit Schätze im Himmel erwerben konnte. Werke der Barmherzigkeit waren vom einzelnen Menschen gefordert, später auch als Kollektivauftrag von organisierten Gemeinschaften, wie etwa den Orden. Christliche Sozialeinrichtungen, wie Spitäler und Obdachlosenhäuser, wurden zu positiven Modellen für spätere Einrichtungen des Staates.
Dazwischen gab es aber immer wieder Pioniere, die religiöse Motivation mit systematischer wissenschaftlicher Forschung auf den verschiedensten Gebieten verbanden. In manchen Fällen ging es dabei um die Verbindung von systematischer Theologie mit „profaner“ Wissenschaft, in anderen Fällen um Persönlichkeiten, die mystische Erfahrungen mit Bemühungen um systematische Welterkenntnis vereinten.
Ein markantes und bis heute sehr bekanntes Beispiel dafür ist Hildegard von Bingen (1098–1179). Sie lebt im Rheinland des 12. Jahrhunderts als Nonne, wird Äbtissin, Klostergründerin, beschäftigt sich viel mit Natur, mit Heilkräutern – ihre Hildegard-Medizin ist bis heute für weite Kreise ein Begriff, ebenso wie ihre Ansichten zu Ernährungsfragen. Sie engagiert sich in Kirche und Gesellschaft. Sie ist Mystikerin, hat zahlreiche Visionen, durch die sie zur religiösen Autorität wird.
In Hildegards erster großer Kosmos-Vision (3. Schau im Buch Scivias) hat der Kosmos eine eiförmige Gestalt – das Ei ist in einer traditionellen Agrargesellschaft ein Bild für Entwicklung („Evolution“). Die vielfältigen Symbole im Bild deuten darauf hin, dass der Kosmos als Leib Gottes zu sehen ist; sie selbst deutet in einer Erläuterung die dort enthaltene Sonne als Christus, diverse andere Symbole deuten auf die Summe der physischen und moralischen Kräfte hin.
In ihrer Schau des Kosmos-Rades (1. Schau aus „Welt und Mensch“) wird dieses von einer menschlichen Gestalt gehalten, bei der nach ihrer eigenen Erklärung die Kräfte der Seele stärker sind als jene des Körpers. Sowohl Licht als auch Dunkel (dieses in geringerem Umfang) sind in dem Rad enthalten. Sie sagt: „aus dem Hauch jener Gestalt, in deren Brust sich das Rad zeigte, ging ein Licht mit … Strahlen aus, heller als der klarste Tag …“ In einer anderen Vision spricht eine gewaltige kosmische Gestalt: „… in aller Wirklichkeit ruhe ich als verborgene und feurige Kraft … allem hauche ich Leben ein … Denn ich bin das Leben.“
Wie Teilhard de Chardin 800 Jahre später moderne Naturwissenschaft und Mystik zusammenzuschauen vermag, sieht die mittelalterliche Naturforscherin und Mystikerin eine einheitliche Kraft in Mikro- und Makrokosmos, die sie „heilige Grünkraft“ (sancta viriditas) nennt. Unwillkürlich wird man hier an den umfassenden Energiebegriff bei Teilhard erinnert. Der Kosmos wird in ihren Visionen von göttlichem Feueratem durchwirkt; man könnte sagen, er erscheint als Leib Christi. In der Beschreibung ihrer Visionen fällt auf, dass nicht, wie sonst oft in der Mystik, die Verbindung der einzelnen Seele mit Gott das zentrale Thema ist, sondern der kosmische Gesamt-Zusammenhang.
Hildegard war trotz mehrfacher Schwierigkeiten kirchlicherseits sehr angesehen. Dennoch mussten mehr als 800 Jahre vergehen, bis sie im Jahre 2012 von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin ernannt wurde.
Große Theologen des Mittelalters beschäftigten sich mit dem Verhältnis von Glauben und natürlicher Erkenntniskraft des Menschen, so auch Thomas von Aquin (1225–1274), vor allem im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Aristoteles. Zu dieser Zeit wurde die Gefahr der Aufspaltung des geistigen Lebens sichtbar, die Trennung von „Wissen“ und „Glauben“ – gewissermaßen eine Vorläufer-Debatte zur heutigen Thematik der Spannung von Naturwissenschaft und Religion. Thomas beschäftigte sich mit dem Verhältnis der beiden Bereiche, ihrer Autonomie, aber auch der Notwendigkeit ihrer Verknüpfung. Er betont den Eigenwert der Materie, besonders auch des menschlichen Leibes; Letzteres als Antwort auf die Behauptung, dass Gottähnlichkeit als Ziel des Menschen nur die vom Leib getrennte Seele beträfe.
Schon eine Generation nach Thomas beginnt auch unter Theologen die Vorstellung von einer Schöpfung zu einem konkreten Zeitpunkt, der einige Jahrtausende zurückliegt, zu wanken: Meister Eckhart (1260–1328) definiert Schöpfung als „Verleihen von Sein nach dem Nichtsein“. Er spricht nicht nur von der fortdauernden Schöpfung, sondern sogar auch von der allzeit gegenwärtigen Menschwerdung Gottes und Vergöttlichung des Menschen. Eckhart wehrt sich gegen die verbreitete Vorstellung, Gott als ein im Himmel thronendes Wesen zu sehen; er greift stattdessen das alte Wort von der „Gottesgeburt“ als Ereignis unserer eigenen Lebensgeschichte auf, spricht davon, dass Gott im Stall oder am Feuer (d. h. im Alltag, bei der Arbeit) genauso zu finden sei wie in „Andachten und süßen Empfindungen“. Damit schlägt er wohl eine Brücke zu einer Spiritualität des Handelns. Eckhart als Dominikaner und prominenter Theologieprofessor wird wegen einiger seiner Thesen in einem Häresie-Verfahren vor ein Inquisitionsgericht gestellt; er unterwirft sich öffentlich dem kirchlichen Lehramt.
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