Bei einer Verletzung der Rechte aus Art. 140 GG besteht eine individuelle Grundrechtsberechtigung, mangels des Grundrechtscharakters der von Art. 140 GG abhängigen inkorporierten Rechte der Art. 136-139 WRV, an sich nicht. Dieser Weg ist jedoch eröffnet, weil man sich faktisch gleichzeitig auf Art. 4 und Art. 140 GG berufen kann, da die Weimarer Religionsartikel entweder direkt dem Grundrecht auf Religionsfreiheit entspringen, oder dieses zumindest berühren. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kann die Beschwerde wegen der Berufung auf Art. 4 GG annehmen. Bei der materiellen Prüfung der Grundrechtsverletzung wird dann auch das übrige Verfassungsrecht einbezogen.
Zu Bestimmung des Verhältnisses von Bundesrecht und Landesrecht, ist das föderale Gestaltungsprinzip des Grundgesetzes in Art. 31 GG und die Art. 70-72 GG herauszustellen. Die sog. Kollisionsregeldes Art. 31 GG lautet: „Bundesrecht bricht Landesrecht .“ Das Grundgesetz bindet damit die Länder in ihren Verfassungen und der Gesetzgebung. Sie haben nicht die Möglichkeit die dort garantierten Rechte einzuschränken, können den Bürgern allerdings weitergehende Rechte einräumen. Zur näheren Ausgestaltung des föderalen Bundesstaates enthält Art. 70 GG eine Grundregel der Kompetenzverteilung, die durch die beiden folgenden Artikel näher definiert werden. Art. 70 Abs. 1 GG stellt die Gesetzgebungskompetenz der Länder fest, soweit die Verfassung nicht einen Gesetzgebungsvorbehalt zugunsten des Bundes enthält. Dabei ist zu betonen, dass die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes sich im abweichenden Fall zwingend aus Art. 71 ff GG ergeben muss. Andernfalls bleibt es bei der Kompetenz der Länder. 29Im Zusammenhang des Staatskirchen- und Religionsrechts gilt, dass die angeführten und auch weitere Normen des Grundgesetzes keinen Regelungsvorbehalt zugunsten des Bundes in dieser Thematik enthalten. Daher gilt gem. Art. 70 GG hier eine Kultushoheit der Länder ex natura rei , mit Ausnahme der Sonderseelsorgebereiche für das Militär und die Bundespolizei, die als gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgefasst werden. 30
2. Europarechtliche Bezüge und Bestimmungen
Die fundamentalen Gewährleistungen des staatlichen Religionsrechts finden sich im Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Im Kontext der Globalisierung und der fortschreitenden (politischen) Einigung innerhalb Europas, das auch eine Vereinheitlichung der nationalen Rechtssysteme, wenigstens aber der rechtlichen Standards erstrebt, stellt sich die Frage nach den supranationalen Wechselwirkungen der religionsrechtlichen Grundrechtsgarantien. Hier zeichnet sich ein Mehrebenensystem ab, das neben einem universalen Völkergewohnheitsrecht, die universellen und partikularen, die Unterzeichner bindenden Menschenrechtsverträge (z.B. die UNMenschenrechtserklärung, die EU-Menschenrechtcharta etc.), supranationale Menschenrechtsgarantien (Unionsgrundrechte) und schließlich die Grundrechte in den Landesverfassungen der Bundesländer umfasst. 31
Als europarechtlicher Grundsatz ist festzuhalten, dass es aufgrund der föderalen Konstruktion der Europäischen Union nach der konstanten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht gibt. 32Unter den europarechtlichen Bestimmungen, die für das Religionsrecht von Bedeutung sind, müssen zwei Ebenen unterschieden werden: die Ebene des Europarats, zu dem fast alle europäischen Staaten gehören und die Ebene der Europäischen Union, zu der zurzeit 28 Staaten (Stand: 1.7.2015) gehören.
Die Europäische Gemeinschaft (EG) wurde 1957 durch die Römischen Verträge, die Europäische Union (EU) 1992 durch den Vertrag von Maastricht gegründet. Die EU hat durch die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2001) Veränderungen durchlaufen. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2007 hat die EU als einheitliche Organisation Rechtsfähigkeit erlangt. Dieser Vertrag ersetzt den im Jahr 2004 abgelehnten EU- Grundlagenvertrag und schließt die bis dahin offene Rechtslücke. Die vormalige »Drei-Säulen-Architektur« bestehend aus den (1) Europäischen Gemeinschaften (EG und Euratom), der (2) gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der (3) polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wurde durch die neuen völkervertragsrechtlichen Regelwerke, weitgehend abgelöst. Der Vertrag von Lissabon (kurz: EUV) (2007) ist die Antwort auf die von Frankreich und den Niederlanden nicht ratifizierte EU- Verfassung (2004). Der Vertrag nimmt wesentliche Inhalte der römischen EU-Verfassung auf, verzichtet aber auf jene einheitsqualifizierenden Elemente (wie Flagge, Hymne, Vorrang des EU- Rechts), die letztlich das Inkrafttreten der europäischen Verfassung verhindert haben. Anders als die nationalen Verfassungen, deren Ziel die verfassungsrechtliche Sicherung des Gemeinwesens ist, zielt der EUV darauf schrittweise ein europäisches Gemeinwesen zu errichten. 33Die wesentlichen Elemente des EUV sind damit nicht Grundrechtsgarantien, sondern Zielvorgaben für die weitere Harmonisierung des nationalen Rechts in der Europäischen Union, dessen Fernziel in einem föderalen Gemeinwesen liegen könnte.
Das Unionsrecht ist grundsätzlich vom nationalstaatlichen Recht zu unterscheiden. Es setzt sich aus Primärrecht (die Verträge) und Sekundärrecht (Einzelrechtsakte) zusammen:
Das primärrechtliche Fundamentbesteht aus zwei Verträgen: dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in dem der ehemalige EGV in revidierter Form aufgeht. Ergänzt werden diese Verträge durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), die durch einen Verweis in Art. 6 EUV für bindend und mit den beiden Verträgen gleichrangig erklärt worden ist. Sie kodifiziert umfassende Grund- und Menschenrechte für das Handeln der EU: Gemäß Art. 51 GRC gilt sie für die Organe und Einrichtungen der EU hinsichtlich des Schutzes der Menschenwürde, der Freiheitsrechte (in unserem Kontext besonders hervorzuheben: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), der Gleichheits- und Bürgerrechte und justizielle Rechte. Die GRC ist aber auch bei der Durchführung von Unionsrecht, bzw. seiner Umwandlung in nationales Recht durch die Mitgliedsstaaten zu beachten. Zu diesen Normen tritt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, die in drei wichtigen Bestimmungen auf das Religionsrecht eingeht. Art. 9 garantiert umfassend die Religionsfreiheit. 34Art. 14 spricht sich für ein Diskriminierungsverbot aus. 35Das 1952 verabschiedete Zusatzprotokoll sichert in Art. 2 den Eltern oder ihnen rechtlich gleichstehenden Personen das Recht auf die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu. 36
Grundlegende europarechtliche Normen
Europarat |
Europäische Union |
Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), von 1950 Art. 9: Religionsfreiheit (mit einem Gesetzesvorbehalt) Art. 14: Diskriminierungsverbot Zusatzprotokoll zur EMRK von 1952 zu Art. 2: Recht der Eltern auf religiöse Erziehung ihrer Kinder |
Vertrag über die Europäische Union (EUV), in der Fassung des Vertrag von Lissabon von 2007, in Kraft seit 1.12.2009Art. 6 I: Anerkennung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 10: Gedanken-, Gewis-sens- und Religionsfreiheit Art. 14 III: Recht der Eltern auf religiöse Erziehung ihrer Kinder Art. 21: Diskriminierungsverbot Art. 22: Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen |
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Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in der Fassung des Vertrags von LissabonArt. 10: Diskriminierungsverbot Art. 17 I: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Art. 17 III: „Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“ Art. 19: Gesetzgebung gegen Diskriminierungen |
Das Sekundärrechtumfasst die Rechtsakte, die die Organe der Union in Ausübung ihrer Kompetenzen erlassen. Das sind Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Verordnungen gelten unmittelbar, Richtlinien sind hinsichtlich des Ziels verbindlich, bedürfen aber der Umsetzung in nationales Recht. Die EU kann nur tätig werden, soweit sie durch die primärrechtlichen Verträge dazu ermächtigt ist. Dabei gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wie am Gleichbehandlungsrecht deutlich wird. Die Regelungskompetenz in diesen Fragen ist der EU erstmals mit dem Vertrag von Amsterdam übertragen. Art. 19 AEUV (früher Art. 13 EGV) ist die Grundlage für den Erlass von Regelungen im Bereich des Gleichbehandlungsrechts, „um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ . Wegen der Einbeziehung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist diese Norm von eminenter religionsrechtlicher Bedeutung. Zugleich handelt es sich dabei um eine Art Sammelbestimmung für alle denkbaren Formen von Ausgrenzung. Daher schließt die Formulierung von Art. 19 AEUV nicht aus, dass einzelne dort genannte Kriterien miteinander in Konkurrenz treten. Das erweist sich z.B. mit Blick auf das Ämtervergaberecht in der katholischen Kirche zunächst als nicht unproblematisch, wenn can. 1024 CIC den Empfang der Priesterweihe Männern vorbehält. Diese Norm ist für die katholischen Bischöfe und Diözesen als Rechtsträger nach nationalem Recht bindend. Hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Kirche beschränkt jedoch im Primärrecht Art. 17 Abs. 1 AEUV des sog. „Kirchenartikels“ die Kompetenz der EU, in dieses Verhältnis einzugreifen. Absatz 1 übernimmt den Wortlaut der sog. Amsterdamer Kirchenerklärung von 1997 (Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte des Vertrages von Amsterdam). Er lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen und beeinträchtigt ihn nicht .“ Damit erkennt die EU die Vielfalt der europäischen Staatskirchensysteme an und akzeptiert die grundsätzliche nationale Regelungskompetenz für das Verhältnis von Staat und Kirche.
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