Dabei ist der Gotthard eigentlich kein sehr alter Pass. Die Römer und ihre Kultur kamen über die Bündner Pässe in das Gebiet der heutigen Schweiz. Auch Furka und Grimsel sind in Verbindung mit den Walliser Pässen die historisch ehrwürdigeren Übergänge. Was den Gotthard auszeichnet, ist nur die Nähe zur Landschaft der Gründungsgeschichte um den Vierwaldstättersee und die dramatische, vielbeschriebene Gefahrenzone der Schöllenenschlucht. Am seltsamsten aber erscheint, dass dieser exemplarische Berg gar kein Berg ist, sondern ein Sattel zwischen Bergen und also kein markantes Gesicht hat. Das Matterhorn kann man als plastische Gestalt zeichnen, auch die Jungfrau und den Pilatus, den Gotthard nicht. Auf Kollers Bild von der Gotthardpost wird dies zum eklatanten Ereignis. Der Gotthard erscheint als die blaue Lücke am oberen Bildrand, in der ein leichtes Wölkchen schwebt. Wo er wäre, wenn es ihn gäbe, ist nichts. Und trotzdem wurde er während des Zweiten Weltkriegs zum Inbegriff des Widerstandes, und die Mitrailleure, die dort Dienst leisteten, die «Gottertmitr», galten im Volk als die Elitetruppen der Schweiz. Die kollektive Fantasie geht ihre eigenen Wege, und wo nichts ist, kann sie auch dies zum Zeichen machen. Mythisches Potenzial hatte nur der Weg zum Gotthard. Goethe hat ihn mit vier Zeilen in dieser Eigenschaft erfasst, nachdem er am 21. Juni 1775 die Route selbst abgeschritten hatte:
«Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.»
Nicht den Teufel und seine Brücke also erwähnt er, obwohl der genaue Ort dieser Sage ins Blickfeld kommt, sondern das ungreifbar Urtümliche der Drachen, einer schauerlichen Vorwelt, durch die passieren muss, wer in das heiterleuchtende Italien will. Das Stichwort Maultier aber bindet die archaische Vision an die konkrete Praxis des damaligen Passverkehrs. Goethe hat die Maultierkolonnen, die täglich über den Gotthard zogen und mit kleinen Glocken behängt waren, damit sie im häufigen Nebel nicht verlorengehen konnten, mehrfach beschrieben. Die erste Fahrstrasse über den Pass wurde erst 1830 eröffnet. Goethe hat sie nie gesehen.
Im Gegensatz zur gewissermassen zeitlosen Existenz der ragenden Berge war der Gotthard von Anfang an ein Ort der technischen Herausforderungen. Seine Geschichte ist bis heute auch eine der Ingenieurskunst. Schon als Ort der Sage war er zugleich ein Ereignis des Fortschritts: Der Teufel, der die erste Brücke baute, war technisch begabt, während die Urner, die ihn überlisteten, indem sie ihm die versprochene Seele in Form eines Ziegenbocks überstellten, nur Bauernschläue vorweisen konnten.
Erheiternd ist übrigens, dass schon Haller vor der Frage stand, wie er den Gotthard denn beschreiben solle. Dessen symbolisches Gewicht verlangte nach einer Erwähnung. So machte er ihn kurzerhand zu einem himmelstrebenden Berg und liess eine Strophe mit dem Vers beginnen: «Denn hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget …» Ein solches Haupt sucht man auf dem Gotthard nun wirklich vergebens.
Es hätte allerdings die Möglichkeit gegeben, die zwei Gipfel, die dem Pass am nächsten stehen, den Pizzo Centrale im Osten und den Pizzo Lucendro im Westen, zu einer Zwillingsgruppe zu stilisieren, mit dem Übergang in der Mitte, und so doch noch ein plastisches Gebilde zu gewinnen. Das ist aber nie versucht worden, obwohl die beiden Berge, je knapp 3000 Meter hoch, von eindrücklicher Kontur sind. Ihre Namen sind indessen nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen und auch heute nur den Alpinisten und Soldaten bekannt; im 18. Jahrhundert waren sie wahrscheinlich noch namenlos. Dagegen findet sich schon früh, auch etwa bei Scheuchzer, der Versuch, den Gotthard symbolisch aufzuwerten, indem man ihn zum Ursprung aller großen Flüsse Europas erklärte. Rhone und Rhein, Ticino und Reuss, Aare und Inn (mithin die Donau) sollten seiner Felsenbrust entspringen, wodurch er, in Analogie zum menschlichen Blutkreislauf, als das Herz nicht nur der Schweiz, sondern des Kontinents hätte gelten können. Aber geografisch ist die schöne Vision leider unhaltbar. Haller, den der mythische Gedanke vom zentralen Ursprung der Gewässer durchaus beschäftigt hat, zog dafür nie den Gotthard in Erwägung, sondern zuerst den Furkapass, später überraschenderweise das Schreckhorn. Die sechste Strophe vor dem Ende des Gedichts begann ursprünglich so:
«Aus Furkens kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen
Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt,
Entspringt die helle Aar …»
Wozu Haller in einer Anmerkung erklärt, dass mit den «Seen» zwei Meere gemeint seien: «Der Rhodan nach dem mittelländischen Meere, die Reuß und Aare in den Rhein und die Nord-See.» Der Rhodan ist die Rhone, und was die Furka betrifft, stimmt die Aussage, dass die Wasser von hier zu den «beyden Seen» fliessen. Nur für die Aare trifft es nicht zu, obwohl geografisch wenig fehlt. An der Aare aber war dem Berner sehr gelegen; schliesslich strömte sie mitten durch seine Vaterstadt, und der Rest der Strophe ist ein Hymnus auf sie. Also liess Haller die Aare in den späteren Auflagen am Schreckhorn entspringen, was geografisch nicht ganz falsch ist, obwohl das Lauteraarhorn, das Finsteraarhorn oder das Wetterhorn ebensogut in Frage gekommen wären, aber mit dem Ursprung der Rhone hat das Schreckhorn leider gar nichts zu tun, also auch mit dem Mittelmeer nicht. Die definitive Fassung ist demnach sachlich falsch, auch wenn sie prächtig tönt: «Aus Schreckhorns kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen / Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt …»
Das scheinbar kleinliche Kritteln an einem großartigen Gedicht rechtfertigt sich hier insofern, als dabei die Schwierigkeit sichtbar wird, den nationalen Wunschgedanken vom Ursprung der europäischen Flüsse aus einem einzigen Berg im Herzen der Schweiz zwingend zu begründen. Wieder einmal stellt die empirische Wirklichkeit der patriotischen Fantasie ein nüchternes Bein. So hält man sich denn in der Gegenwart lieber an das Werk der Ingenieure und Mineure, an den ruhmreichen Tunnel.
Dieser Beitrag wurde übernommen aus: Peter von Matt, Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, © Carl Hanser Verlag München 2012, S.62–67.
Verena Stössinger
Heidelbeeren und der heilige Antonius
Hinter Amsteg, nach der Kurve beim schwarzsteinernen Kraftwerk, das wirkt wie eine Kaserne, ist die Strasse fast leer. Nur ab und zu überholt uns noch ein Urner Auto, und zweimal kommt ein Bus entgegen. Wie eng das Tal hier schon ist. Steil bewaldete Hänge, an denen Nebel klebt; darüber sind manchmal Bergwände sichtbar, weiss gesprenkelt von Schnee. Fast wie in Norwegen, denke ich – habe ich schon am Vierwaldstättersee gedacht, der aussieht wie ein Fjord. Grau und streng. Aber hier sind mehr Laubbäume zwischen den Tannen, und die Häuser sehen sehr anders aus: sind dunkler in ihrem Schindelkleid, geduckter und giebliger. Und es gibt mehr Kirchen.
Intschi, Gurtnellen-Wiler. Strassendörfer, die wirken, als schliefen sie einen tiefen Schlaf. Die Gasthäuser zu, kein Mensch unterwegs, und alles sieht etwas ärmlich aus, aber schon sind die Häuser wieder verschwunden. Die Strasse steigt an. Ziegen weiden auf schrägen Wiesen, wir sehen ihre dicken weissen Hintern. Ein Bauer mäht mit der Sense. Unter der strasse schäumt die weissgraue Reuss zu Tal, in Galerien ziehen Güterzüge und elegante weissrote Fernzüge vorbei, und unter dem Himmel hängt das Betonband der Autobahn. Als wir aussteigen auf einem gekiesten Parkplatz, hören wir erst nur den Lärm der Autos. Er ist lauter als das Tosen der Reuss. Wir schauen uns um. Ein gelber Wanderwegweiser, auf dem Waldboden Brennnesseln, Farn und Erdbeerpflanzen, und «siehst du die Pilze?», fragt Jürgen. Drei verschiedene Arten sind es; er kennt zumindest die eine. Braunweisse Boviste.
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