Muss man sich denn überhaupt so viele Gedanken um das Laufen machen oder reicht es nicht, einfach zu laufen?
Es reicht völlig aus, einfach zu laufen.
Aber erstens ist der Mensch anscheinend so gestrickt, dass er sich über seine Lieblingstätigkeiten durchaus auch ab und zu ganz gerne Gedanken macht und zweitens wendet sich das Buch ja ausdrücklich an diejenigen, die es wissen wollen, wie es läuft. Gelegentlich kann ich sogar einen Grund nennen, warum etwas funktioniert oder nicht.
Wenn Du es wirklich wissen willst, also noch mehr Spaß und/oder Erfolg mit Deiner Lauferei haben möchtest, dann musst Du entweder einen Trainer haben, der Dich auch bis in die Kleinigkeiten des Alltags betreut und lenkt – solche Leute sind eine aussterbende Art. Oder Du nimmst auch Dein Läuferleben in die eigene Hand. Gedanken machen, analysieren, spekulieren und planen ist die eine Sache – das Umsetzen dann noch eine weitere Disziplin.
Macht Ultralaufen langsam?
Nein.
Langsamer (z. B. über Halbmarathon oder 10 km) wirst Du allenfalls durch zu viel Ultralaufen bzw. zu selten gesetzte Temporeize. Um aber vernünftige Ultraläufe hinzubekommen, brauchst Du unbedingt auch Tempovermögen, und zwar Dein spezifisches. Viele Ultraläufer haben ihre PBs (= Persönliche Bestleistung) über 100 km oder 24 h genau in den Jahren erzielt, in denen sie sich auch auf den Unterdistanzen verbessert hatten.
Auch langfristig (alterskorrigiert natürlich …) ist Ultralaufen keine Tempobremse. In meinen wenigen Nicht-Ultralaufjahren war ich über kürzere Strecken relativ schwächer als z. B. im Marathon. Meine 10-km-Zeit hätte nach der Faustformel 10-km-Zeit x 4,66 eine Marathonzeit von knapp 2:44 »erlaubt« – gelaufen bin ich 2:38:36 und einige weitere Male unter meiner Faustformel-Marke von 2:44. Das war, als ich Anfang/Mitte Dreißig war. Jetzt, mit über 60 Jahren und fast 30 Jahren als Ultraläufer, bin ich über die kürzeren Strecken allmählich relativ besser als über Marathon geworden. Oder anders ausgedrückt: Der altersgemäße Leistungsrückgang ist bei mir auf den (ungeliebten) kürzeren Distanzen weniger ausgeprägt als bei Marathon und mehr.
Macht Ultralaufen doof?
Ja, aber glücklicherweise nur vorübergehend.
Du hast bestimmt schon erlebt, z. B. jenseits von km 30 eines voll gelaufenen Marathons, dass Dir einfaches Kopfrechnen nicht mehr gelingt, dass Dir alle möglichen queren Assoziationen ungefragt durch den Kopf tanzen, dass Du einen verdammt engen Tunnelblick bekommst, keine vernünftigen Sätze mehr rausbekommst (und zwar nicht wegen Atemnot) usw. usw. Das gibt sich alles spätestens eine Viertelstunde nach dem Finish. Bei Ultraläufen können ganz ähnliche Phänomene auftreten – hier eher durch die Dauer als die Intensität der Anstrengung. Im 24-h-Lauf kann es Phasen geben, in denen man quasi im Laufen »pennt« – alle Deine Wahrnehmungssinne sind auf absoluten Energiesparmodus runtergefahren. So lange Du dabei vorwärts läufst und nicht an den minimalsten Bodenunebenheiten hängen bleibst, gar nicht mal so schlecht … Aber in einem Wettkampf ist es schon besser, wenn man zu jeder Zeit relativ wach und aufmerksam durch die Gegend läuft. Ilona Schlegels »Dilledöppchen« haben als Betreuer in 24-h-Rennen meist in den grauen Morgenstunden (für alle) gut lesbare Schilder mit Rätselfragen oder ganz einfachen Fragen (»Was ist Deine Startnummer?«) in die Laufrichtung gehalten und z. B. auch mich »Penner« wachgerüttelt – die wussten, dass man vorübergehend doof werden kann und dass man für ein ordentliches Finish besser wieder seine sieben Sinne zusammensuchen sollte.
Langfristige Wirkungen hab ich weder bei mir noch anderen Ultras festgestellt. Sogar die Studie an den Teilnehmern des Transeuropalaufs 2009 hat per Messungen ergeben, dass die Gehirnmasse während der 67 Tage und 4500-Lauf-km tatsächlich im Schnitt um ein paar Gramm abgenommen hatte, aber nach ein paar Wochen »normalem« Leben bzw. Laufen alles wieder auf dem alten Stand war.
Macht Ultralaufen kreativ/innovativ?
Leider auch nicht.
Auf den kürzeren Dauerläufen von rund einer Stunde Dauer ist es Dir sicher auch hier und da passiert, dass Dir die tollsten Ideen zu Problemen in den Kopf schießen, zu denen Dir in der Hektik des Arbeitsalltags aber auch überhaupt nichts einfallen wollte. Die Flutung des Gehirns mit Sauerstoff kann schon erstaunliche Potentiale zum Vorschein bringen – und deswegen hatte ich im letzten Jahrtausend zeitweise ein Diktiergerät auf meine Trainingsrunden mitgenommen, weil ich mich ohne Gedächtnisstütze nach dem Lauf immer nur höchstens an die letzte Idee erinnern konnte, obwohl ich bestimmt 5 oder 6 tolle Einfälle während des Laufens hatte. Diesen Booster-Effekt auf die kreativen oder innovativen Gehirnbereiche habe ich auch auf den ersten 1–2 Stunden von meinen längeren Trainingsläufen erlebt. Aber danach verebbt der Strom der Gedankenblitze. Also kann ich bei mir leider keine über die bei Lauf-Normalos hinausgehende ultra-spezifische Gehirnstimulierung direkt während des Laufens feststellen. Und, mit Verlaub, bei anderen Ultraläufern auch nicht … Dieser schöne Nebeneffekt des Laufens kann sich halt bei allen einstellen, die sich ein, zwei Stunden an der frischen Luft bewegen – und zwar in einer Intensität weit unterhalb der individuellen Leistungsgrenze.
Ob dann unser langes Laufen wenigstens noch nachträglich die Gehirnzellen aktiver hält (so wie Muskeltraining noch einen nachlaufenden Kalorienverbrauch bewirkt), wage ich auch zu bezweifeln. Das Zufriedenheitsgefühl nach einem schönen langen Lauf überwiegt, und Zufriedenheit ist ja bekanntlich keine gute Seelenlage für das Aufkommen von innovativen Gedanken …
Was ist der beste Laufstil für Ultraläufe?
Der beste Laufstil ist der, welcher Dirdas beste Gefühl gibt, dass Du mit minimalem Energieverbrauch relativ zügig vorwärts kommst.
Da kann es individuell sehr große Unterschiede geben, die man ja bereits auch im Marathon-Spitzenbereich bei den großen Rennen immer wieder verwundert bestaunen kann. Aber ebenso wie im Marathon kann man für Ultraläufe schon beschreiben, wie es denn idealerweise laufen sollte: Der ideale Ultralaufschritt für Strecken ab 100 km sieht nicht besonders dynamisch aus, sondern eher flüssig-rationell:
1.wenig Kniehub und generell wenig Bewegung in der Vertikalen – der Kopf des Läufers wird vom restlichen Körper mit einer möglichst geringen Abweichung von einer horizontalen Linie parallel zur Laufoberfläche vorwärts bewegt. Laufen wird ja gern als Aneinanderreihung von vielen kurzen Sprüngen beschrieben (und im Gegensatz zum Gehen sind für eine kurze Zeit ja tatsächlich auch beide Füße in der Luft). Es kommt beim Langstreckenlauf und erst recht beim Ultralauf darauf an, so wenig wie möglich an Energie zum Hochspringen zu vergeuden. Also so wenig wie möglich nach oben, sondern nach vorne »springen«.
2.Wenig Wert auf einen dynamischen Fußabdruck legen: der ermüdet nämlich die Wadenmuskulatur, verführt zum unökonomischen Hochspringen. Gute Ultraläufer springen nämlich auch nicht vorwärts, sie gleiten eher über den Parcours.
3.Eine Schrittfrequenz von ca. 90 Halbschritten pro Minute mit
4.guter Körperspannung und austariertem Armeinsatz.
Ein solcher Laufstil ist ideal, um viele befriedigende Ultralauf-Erlebnisse und -Ergebnisse einzufahren. Er ist für kürzere Distanzen auch nicht verkehrt, aber ganz schnelle Rennen kann man damit nicht erwarten.
Soll ich meinen Laufstil ändern, wenn er zu weit vom idealen Ultralaufstil weg ist?
Читать дальше