Gottlieb Lemme, der etwas gesitteter war als die beiden anderen, erinnerte sich mit Vergnügen an Streiche mit seinem Cousin Fritz und Onkel Heinrich: etwa wie sie über den Fürstenwall spazierten und durch die Kamine der unterhalb gelegenen Häuser den Leuten Steine in den Kochtopf schmissen. Auch das Klettern auf den Sandsteinblöcken vor der St. Katharinenkirche kommt hier vor. 142Die drei Buben hingen eng aneinander; Heinrich schrieb an Lemme, als er im Mai 1795 Fritz in Leipzig aufsuchte, vom «alten Trifolium» (Kleeblatt), das er gerne wieder einmal beisammen sehen möchte. 143
Fritz blieb unternehmungs- und reiselustig und kam später doch noch nach Böhmen; er wurde Kaufmann und gründete 1801 mit einem Freund in Reichenberg (dem heutigen Liberec) eine Schönfärberei, die er bis 1807 betrieb; zuvor machte er einen Ausflug nach Konstantinopel. 144Heinrich schenkte ihm für die Reise durch den wilden Balkan einen Sarras (Säbel) mit Koppel, Vater Andreas ein Paar Pistolen. 145
Ausser Fritz, Heinrich und dem Dichter Joachim Christoph Friedrich Schulz schlug ein weiterer ehemaliger Mitschüler eine abenteuerliche Laufbahn ein: Carl Friedrich August Grosse (1768–1847) besuchte von 1779 bis 1786 das Pädagogium und wurde im Schulkonferenz-Protokoll vom 19. Juli 1780 zu den hoffnungsvollsten Scholaren gezählt. Er studierte wie sein Vater Medizin, gab das Studium aber auf, bereiste eine Zeitlang Spanien und Italien, legte sich die Titel Marquis von Grosse, Graf von Vargas, stolbergischer Hof- und Forstrat und Ritter des Malteserordens zu und gelangte dann nach Dänemark, wo er sich mit den norwegischen Berg- und Hüttenwerken befasste, Kammerherr wurde und sich mit dem späteren König Christian VIII. befreundete. 146Daneben schrieb er Erzählungen und Romane. Sein bekanntestes und noch heute hie und da zitiertes Werk ist der Schauer- und Geheimbundroman «Der Genius» (1791–1795), der Zschokkes Romane «Die schwarzen Brüder» und «Männer der Finsterniß» beeinflusste. Grosse wird als «Romantiker der Trivialliteratur» bezeichnet. 147Wie Schulz und Zschokke war auch er ein «Opfer» von Lehrer Schummels Leidenschaft für Theater und Belletristik.
Wie ein Stossseufzer tönt es, wenn Rötger 1783 über das Pädagogium unter Schummels Einfluss nachdachte:
«Noch vor wenigen Jahren hatt eine Sündfluth von Lektüre fast allen wahren Fleiß, fast alles eigentliche Studiren weggeschwemt. Beschäftigt waren unsre Schüler auch damahls, aber sie pränumerirten in unsern Leihebibliotheken, nahmen da Bücher entweder ganz ohne, oder doch wenigstens bloß nach eigner Wahl, die denn oft schlecht genug ausfallen mußte, und ist irgendetwas verderbliche Schulpest, so ist es dies. Jezt ist ja diese Epidemie Gotlob fast ganz nun ausgerottet, wenigstens gar nicht mehr Epidemie. Zwar lesen unsre Schüler noch auch teutsche Bücher, und werden dazu gar sehr aufgemuntert, aber es ist das nicht Sucht mehr, der Aufseher regulirt selbst die Auswahl der Bücher und nicht die zum eigentlichen Studiren bestimten Stunden, sondern nur Stunden, die den Nebenbeschäftigungen gewidmet sind [...].» 148
Selbst Joachim Christoph Friedrich Schulz schloss in seinen «Kleinen Wanderungen durch Teutschland in Briefen an den Doctor K.*» sein Lob auf Schummel mit einer Kritik (oder war es ironisch gemeint?) auf die «Epidemie» des Romanelesens, das in den Schulen grassiert habe:
«Indessen hatte dies den Schaden, daß einige Schüler die eigentliche Gelehrsamkeit versäumten und leidige Belletristen wurden. Ein Paar davon sind auch als Schriftsteller zur Genüge bekannt geworden. Es ist lobenswürdig, daß der jetzige Director einen großen Theil dieses bellettristischen Unwesens abgestellt hat.» 149
Johann Friedrich Wilhelm Koch, der gestrenge Lehrer Heinrichs, in dieser Sache ganz Rötgers Meinung und kein Freund der Schummelschen Pädagogik, schrieb in das Zeugnis eines Schülers: «Klen mag noch izt lieber einen deutschen Roman oder ein Schauspiel leßen, als sich viel zu Nachdenken erfordernden Geschäften versteigen. Sonst ist seine Bescheidenheit, Stille und Artigkeit rühmlich, er qualifiziert sich bis izt nur zu einem empfindelnden Romanschreiber.» 150Dass das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen zu einer Brutstätte für Romanschreiber wurde, mag etwas übertrieben sein, aber die Häufung von Dichtern aus der Ära Schummel ist auffällig.
Und Zschokke? Mehrmals kam er auf seine Faszination der Märchen aus 1001 Nacht zu sprechen; «Aladins magische Lampe und seine ebentheuerliche Bewerbung um die schöne Prinzessin Badrulbudur entzückten mich, als Knaben, und, ich läugne es nicht, behagen mir in mancher Stunde noch izt.» 151
IM REICH DER PHANTASIE
Heinrich befand sich in einer magischen Phase, die ihm ein Schutzschild gegen die Unbill der Welt bot, auch nachdem sein Verbleib am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen beendet war. Er wurde der Obhut seines Bruders Andreas, der als Erzieher versagt hatte, entzogen und der ältesten Schwester Dorothea Lemme übergegeben. Mit diesem Schritt war ein neuer Umzug verbunden: an die Dreiengelgasse, die neben der Schrotdorfer Strasse verlief. Dort genoss er wieder mehr Freiheiten, und auch in der neuen Schule gefiel es ihm besser. Man hatte den Plan aufgegeben, ihn zum Gelehrten zu bilden. «Ich sollte da allenfalls soviel lernen, als nöthig, um Krämer oder Handwerker zu werden.» 152
Die Friedrichsschule an der Brandstrasse, 153die aus einer Lateinschule der Pfälzer-Kolonie hervorgegangen war, gehörte den reformierten Gemeinden Magdeburgs: der Deutsch-reformierten, der Wallonischen und der Pfälzer Gemeinde, die auch politisch eine eigene Administration besassen. Ihre Bürger waren Nachkommen jener protestantischen Flüchtlinge, die Kurfürst Friedrich Wilhelm gegen Ende des 17. Jahrhunderts aktiv in sein Herrschaftsgebiet holte. Nach den französischen Hugenotten, die 1686 in Magdeburg einwandert waren und die Französisch-reformierte Kirche gründeten, folgten 1689 Glaubensflüchtlinge aus Wallonien, die sogenannten Wallonisch-Reformierten. Sie waren vom französischen König aus ihrer Zwischenstation Mannheim vertrieben worden. Im gleichen Jahr erreichten auch Flüchtlinge aus der Pfalz die Stadt, welche den Stamm der Deutsch-reformierten Gemeinde bildeten. 154Im Jahr 1703 zählte die hugenottische Kolonie in Magdeburg 1375 Personen; sie war nach der Berliner Kolonie die grösste in Brandenburg-Preußen. 155
Die Friedrichsschule hatte vier Klassen, zwei obere für den Gymnasial-, zwei untere für den normalen Unterricht, und wurde von vier ordentlichen Lehrern geführt, einem Rektor, einem Konrektor, einem Subkonrektor und dem Kantor. 156Rektor Hüffer passte die Schule 1780 an die veränderten Bedürfnisse der Glaubensgenossen an. Sie diente fortan für «künftige Gelehrte, Kaufleute, Künstler, Handwerker und nützliche Bürger» und erhielt den Charakter einer Gesamtschule. 157
Heinrich Schocke, der ja lutherischen Glaubens war, wurde der untersten Klasse zugeteilt. Sein Lehrer war Friedrich Saladin Capsius, ein älterer Herr in geblümtem Schlafrock und gepuderter Perücke, ein erfahrener Schulmann, seit 1753 auch Kantor der Deutsch-reformierten Gemeinde. 158Er pflegte den traditionellen Unterrichtsstil und hatte einfache, zweckmässige Strafmittel, die für alle sichtbar auf dem Tisch lagen: drei Stöcke unterschiedlicher Länge und Dicke. Daneben lag ein Lasso, das er von seinem Platz aus zielsicher über den Kopf eines fehlbaren Schülers warf und ihn in gerader Linie über alle Bankreihen hinweg zu sich zog, um ihn seiner Strafe zuzuführen. 159Capsius muss sich zeitweise mehr als Dompteur denn als Lehrer vorgekommen sein, wenn in seinem Schulzimmer 50 bis 60 Knaben sassen. Da die Friedrichsschule gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur 80 bis 100 Schüler hatte, 160müssen er und sein Mitlehrer Mors, der zugleich Organist an der deutsch-reformierten Kirche war, 161manchmal zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet haben. Bei den Schülern sei Capsius beliebt gewesen, behauptete Zschokke, da er ein Gespür für sie hatte, und sie hätten ihm freudig gehorcht. Er wollte die Knaben bändigen, aber nicht demütigen oder brechen. Offenbar gelang es ihm besser als dem intellektuellen Rötger, ihnen klar zu machen, was er wollte und was nicht. Er machte nicht lang Federlesen und brauchte kein Reglement, um nachzuschlagen, welche Strafe für einen Verstoss gegen ein bestimmtes Schulgesetz vorgesehen war.
Читать дальше