Der nächste Eintrag zu den beiden Schockes findet sich nicht mehr in der Konduitenliste, sondern im Protokoll der Schulkonferenz vom 21. Juni 1781: «Der Stadt Schüler Bekmann wird seiner bisher verübten Diebstäle wegen relegirt, und die beiden Stadt Schüler Schokke erhalten ihrer Liederlichkeit wegen das consilium abeundi. Bekman bekommt noch vorher vor der ganzen Schule den Stock, auch werden die beiden Stadt Schüler Richard und Berghauer mit dieser Strafe, iedoch ohne Relegation belegt.» 131
Selbst wenn wir nichts Genaueres wüssten, müssten wir uns fragen, ob hier nur die Schüler versagt hatten oder nicht auch die Lehrer. Man rekrutierte sie aus Absolventen der Theologie frisch von der Universität; sie betrachteten den Lehrerberuf oft nur als Sprungbrett auf dem Weg zu einer einträglichen Pfarrstelle. Dies war eine in Deutschland übliche Praxis, wie Jean Paul sehr schön an seinem Egidius Zebedäus Fixlein, Konrektor des Gymnasiums von Flachsenfinger, erzählt. 132Der Lehrerstand war schlecht angesehen und kärglich bezahlt. Wie wollte man unter diesen Umständen erwarten, dass sich die angehenden Pfarrherren an der Schule voll engagierten? Pädagogisches Interesse oder Können wurden nicht einmal vorausgesetzt.
Das Kloster Unser Lieben Frauen hatte Patronatsstellen an verschiedenen Kirchen zu vergeben, 133und die meisten Lehrer hofften, möglichst rasch dorthin zu kommen. Zuvor mussten sie sich einige Jahre als Lehrer bewähren und dann in den noch schlechter bezahlten Status eines Konventualen aufsteigen. 134Dort mussten sie abwarten, bis eine Pfarrei frei wurde, die dann nach dem Anciennitätsprinzip besetzt wurde. Wohlweislich war es den Konventualen – ein Überbleibsel der alten Klosterzeit – untersagt zu heiraten, da sie ja doch keine Familien hätten ernähren können. So musste Schummel die Schule verlassen, als er Vater wurde, nicht aus sittlichen Gründen, sondern wegen des Eheverbots. Probst Rötger war der einzige verheiratete Konventuale am Pädagogium.
Durch einen Zufall sind wir genau informiert, weshalb die beiden Schocke von der Schule mussten. Das Kloster Unser Lieben Frauen legte eine Akte mit der Überschrift «Wider den Tuchmacher Schock zu Magdeburg» an, 135wo der Fall aufgerollt wurde. Nachdem Heinrich und Fritz weggewiesen wurden, weigerte sich Andreas Schocke nämlich, das aufgelaufene Schulgeld zu bezahlen, mit der Begründung, die Schule habe nicht genügend auf die beiden Knaben aufgepasst. Eigentlich müsse sie ihn, Andreas Schocke, für seine Umtriebe entschädigen. Der Rektor reagierte empört auf das «impertinente und injuriöse Billet» und übergab die Angelegenheit dem Gericht, das einen Termin einberief und mit Schocke und dem Rektor einen Vergleich schloss.
Aus dieser Akte geht hervor, dass Heinrich «in Betracht daß er eine Waise und arm ist» statt der üblichen zwölf Taler Schulgeld pro Jahr nur acht gezahlt hatte und dass ihm auch am Eintritts- oder Federgeld zwei Taler erlassen worden waren. Andreas Schocke konnte nachträglich auch das Schulgeld für seinen Sohn Fritz herunterhandeln. Mit dem Vergleich wurden die Affäre und das Intermezzo mit den beiden Schockes für das Pädagogium aus der Welt geschafft.
Aus den Akten ersehen wir auch den Tatbestand: Heinrich und Fritz waren eine Woche vor Pfingsten 1781 unentschuldigt der Schule fernblieben. Mitschüler hatten den Lehrern erzählt, die beiden Schocke würden die jährliche Revue besuchen, eine Truppeninspektion durch Friedrich den Grossen mit Manövern, Schiessübungen und Parade, die vom 25. bis 28. Mai in der Nähe von Magdeburg stattfand. 136Es war ein Riesenspektakel, der viele Schaulustige anzog. Schon zuvor war die Stadt in Aufregung: Es gab umfangreiche militärische Verschiebungen, damit Magdeburg während der Manöver von Truppen nicht entblösst war.
Da die Schocke-Kinder öfters zu Hause blieben und erst nachträglich eine schriftliche Entschuldigung brachten, nahm man an, es würde wieder so sein. Wenige Tage nach Ende der Truppenübungen begannen die Pfingstferien, die eine gute Woche dauerten. Als die beiden Schüler nach Wiederbeginn der Schule immer noch fehlten, erfuhren die Lehrer, die beiden seien verschwunden und würden von den Eltern gesucht. Sie wurden schliesslich in Dessau aufgegriffen.
Darauf «wurden sie nach gefaßtem Conferenz-Schluße, da sie ohnedem ungezogene junge Leute waren, von unsrer Schule excludiret», wie der Rektor sich ausdrückte. 137Behrendsen fügt das Motiv für ihr Davonlaufen hinzu: Im Geografieunterricht hätten sie vernommen, in Böhmen lägen an den Flussufern Diamanten herum, und sich rasch entschlossen auf den Weg dorthin gemacht. 138Da sie aus der Landkarte wussten, dass Böhmen irgendwo in südöstlicher Richtung lag, wanderten sie einfach der Elbe entlang aufwärts.
Vermutlich war ihr Entschluss nicht ganz so spontan gefallen. Immerhin hatten sie für ihr Verschwinden eine Zeit gewählt, zu der ihre Abwesenheit in der Schule nicht gleich auffallen würde; es hatte ja fast drei Wochen gedauert, bis die Lehrer sich nach ihnen erkundigten. Daraus kann man auch schliessen, dass sie ihr Wegbleiben nur als einen Ausflug betrachteten und im Triumph und mit Taschen voll von Diamanten zurückkehren wollten, bevor man ihr Fernbleiben entdeckte. Dass sie von den Verwandten vermisst und gesucht würden, mussten sie hinnehmen. Aber dass sie deswegen gleich aus dem Pädagogium geworfen würden, hatten sie wohl nicht erwartet, denn unentschuldigtes Fernbleiben wurde normalerweise nur mit Karzer bestraft.
Im Februar davor hatte sich ein ähnlicher Fall zugetragen, der wochenlang Schulgespräch war und Heinrich und Fritz vielleicht zu ihrem Vorhaben inspiriert hatte. Ein Schüler namens Gossler war davongelaufen und von Bauern aus Fähliz halberfroren und -verhungert zurückgebracht worden. Der Rektor heizte den Karzer schon ein, aber von Mitleid übermannt sah er davon ab, ihn einzusperren, bevor er wieder bei Kräften war. 139
Drei Schüler mit Namen Gossler, vermutlich Söhne des Kriegs- und Domänenrats Christoph Friedrich Gossler, Grosshändler und Woll- und Seidenhalbzeugmanufaktur-Unternehmer, besuchten damals gleichzeitig das Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen. Zwei waren Musterschüler in den oberen Klassen, und die Lehrer waren des Lobes voll über sie. Einzig der jüngste, der geflohen war, in die Tertia ging und nur Gossler der Dritte genannt wurde, galt als flatterhaft und unbeständig. 140Er war zerknirscht und machte glaubhaft, nicht die Schule, sondern das abweisende Verhalten seines Vaters habe ihn zu seinem Weglaufen veranlasst.
Gosslers Fall war also völlig anders gelagert als derjenige der beiden Schockes, die aus purer Abenteuerlust davonzogen, zu einer angenehmen Jahreszeit und vermutlich mit genügend Proviant ausgestattet. Ob sie nur bis Dessau gekommen waren – in Luftlinie etwas über 50 Kilometer – oder umgekehrten, als sie entdeckten, dass der Weg weiter war als gedacht, wissen wir nicht; einziger Zeuge für das Ziel ihrer Reise und den Abholort war Behrendsen, der das Ganze anekdotisch erzählte. Zschokke selber erwähnt den Vorfall nicht. Vom Rektor erfahren wir im Entwurf eines empörten Briefs an Schocke noch, dass Fritz, schon bevor er in die Schule eingetreten war, Heinrich «zu dem nämlichen Exzeß zu verführen suchte, zu dem sich derselbe endlich von ihm verleiten ließ».
Andreas Schocke hatte mit seinem Vorwurf, die Schule beaufsichtige ihre Schüler nur ungenügend, einen empfindlichen Punkt berührt. Zwar hatte sie in der Tat keine Aufsicht über die Freizeit ihrer Stadtschüler, wie der Rektor sich verteidigte, andererseits dauerte der Unterricht von 7 bis 10 Uhr (im Winter von 8 bis 11 Uhr), am Nachmittag von 2 bis 5 Uhr, und der Rest war schulfrei; die Externen mussten in dieser Zeit die Schulräume verlassen. 141Was konnte man anderes erwarten, als dass einige von ihnen herumstrolchten und Schabernack trieben?
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