Der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz (1762–1798), der von 1773 bis 1779 diese Schule besuchte, notierte in einem Reisebericht im «Teutschen Merkur» zu Schummels Unterricht: Er «sah soviel als möglich darauf, daß die Schüler nicht unter den alten Autoren und was dahin einschlägt versauerten. Er gab ihnen auch von dem Honigseim der schönen Litteratur zu kosten, suchte ihren Geschmack zu bilden, lehrte sie teutsch schrieben und ihre Gedanken in dieser Sprache nach den besten Mustern vortragen.» 97
Rötger und Schummel gingen also daran, den Unterricht kindergerecht zu gestalten und die Schüler zum Denken und Erleben zu befähigen. Die Lehrer sollten, statt vor ihnen zu dozieren, mit ihnen in einen Dialog treten und abstraktes Bücherwissen in eine allgemeinverständliche Sprache übertragen. 98Eines liess sich allerdings nicht reformieren: die Vorherrschaft des Latein. Dies betraf alle höheren Schulen in Magdeburg. Es mutet für eine dem Kommerz gewidmete Stadt eigenartig an, dass nur zaghaft Bürgerschulen entstanden, die ohne die alten Sprachen auskamen. Am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen war das Latein besonders ausgeprägt: In der untersten Klasse waren dafür zehn Stunden bestimmt. 99
Immerhin kamen attraktivere Fächer wie Geschichte, Geografie und Französisch (drei Stunden für die Anfänger) nicht zu kurz. Einige Jahre nach Zschokkes Weggang führte Rötger in der untersten Klasse sogar eine Zeitungslesestunde ein. Im Dezember 1779 wurde er Probst des Klosters und damit Direktor des Pädagogiums, was bedeutete, dass er, vom Schulunterricht entlastet, seine Reformen vorantreiben und sich ganz den pädagogischen Aufgaben widmen konnte.
Prinzipiell entschied die Leistung in Latein über die Versetzung eines Schülers, aber in jedem Fach wurde er besonders eingestuft. 100Es konnte vorkommen, dass ein Schüler, der die Schule verliess, als Lateiner ein Jahr in der Prima verbracht hatte, aber in Mathematik nur den Stand der Tertia besass. Entsprechend gab es keine festen Klassen, sondern ein Fachlehrersystem, wobei es Rötger wichtig war, dass die Lehrer in ihren Fächern zugleich in höheren und unteren Stufen unterrichteten.
Die Rahmenbedingungen waren für Heinrich somit ausgezeichnet, als er am 26. April 1779 in diese Schule eintrat. Es wurde ein Fiasko daraus, das an Pfingsten 1781 zu seinem Ausschluss führte. Es lässt sich kaum eine Schulkarriere vorstellen, die bei so guten Voraussetzungen – pädagogischen und fachlichen der Schule und intellektuellen des Schülers – einen schlechteren Verlauf hätte nehmen können. Sie scheint ein einziges grosses Missverständnis gewesen zu sein; alles lief schief. Für Heinrich war die Schule ein Martyrium, für die Lehrer war Heinrich ein Ärgernis und der Schule drohte ein Reputationsverlust. In seiner «Selbstschau» erinnerte sich Zschokke mit Bitterkeit an die beiden verlorenen Jahre.
«Ich ward in die unterste der Klassen gesetzt. Allein mir Unglücklichen, dem noch die dürftigsten Vorkenntnisse fehlten, blieb aller Unterricht dunkel. Ich saß da, von langer Weile geplagt. Mich ihrer zu entschlagen, überließ ich mich dem sanften Zuge angenehmer Träumereien; zeichnete ungeschlachte Riesen und Ungeheuer aufs Papier; sah in den geometrischen Figuren, welche uns der Lehrer auf die schwarze Wandtafel abbildete, Irrgärten, Thürme und fantastische Brücken. Für kleine Gegengefälligkeiten ließ ich mir von einem Mitschüler die Schulaufgaben lösen, um Strafen und Vorwürfen zu entgehn.» 101
Heinrich scheint beim Schuleintritt von Latein und Französisch nichts verstanden zu haben und ein Jahr später nicht viel mehr. Wie es mit den andern Fächern stand, wissen wir nicht.
Direktor Rötger gab 1783 den Lehrern, Eltern und Schülern mit seiner «Ausführlichen Nachricht von dem Pädagogium am Kloster Unser Lieben Frauen in Magdeburg», eine Anleitung, wie seine Schule funktionieren sollte. Darin schrieb er in seiner etwas skurrilen Orthografie:
«In den Unterricht bei uns kan jeder aufgenommen werden, der mit Fertigkeit teutsch und lateinisch lesen, etwas ihm Vorgesagtes ohne mühsame Zusammensuchung zu Papier bringen kan, und die lateinischen Paradigmen der Deklinazionen und regulairen Konjugazionen wenigstens mechanisch und mit nothdürftiger Fertigkeit ins Gedächtniß gefaßt hat; und von dem es mir nicht wahrscheinlich sein muß, daß er in Absicht der Sitlichkeit ein Verderber unserer andern Schüler sein mögte.» 102
Vom Eintrittsalter hänge das nicht ab, schrieb Rötger weiter; man habe schon 8-Jährige aufgenommen, «die uns gar nicht lästig wurden». 103Er empfehle aber, Schüler nicht unter zehn oder zwölf Jahren anzumelden, da sie schon einigermassen erzogen sein müssten. Beidem, den erforderlichen Lateinkenntnissen und einer Erziehung, war Heinrich bisher nur ungenügend teilhaftig geworden. Er wurde mit seinen acht Jahren der Schule durchaus lästig.
Nach Zschokkes «Selbstschau» müsste man annehmen, dass er sich keiner Eignungsprüfung unterziehen musste. Im Lehrkörper war man sich nicht einig, ob an die Anfänger überhaupt schulische Bedingungen gestellt werden sollten. Auf die Frage Rötgers an einer Schulkonferenz, «was für Fähigkeiten und Käntniße der mitbringen müße, welcher in unsrer Quarta aufgenommen zu seyn wünschte», antwortete ein Lehrer: «Aber warum will mann nicht ieden, der lesen kann aufnehmen? Es war, wo ich nicht irre, der Zweck der Einrichtung dieser Klaße, auch die ersten Anfänger aufzunehmen.» 104Selbst wenn Heinrich also eine Prüfung ablegte, die für jeden Neuen Pflicht war, hiess das nur, dass er überall in die unterste Stufe kam, und nicht, dass man ihn zurückstellte.
Dabei war der Schulleitung durchaus bewusst, dass die angemeldeten Schüler sehr unterschiedliche Vorkenntnisse mit sich brachten. Deshalb wurde 1778 noch eine Vorbereitungsklasse (Quinta) eingeschaltet, welche die bisherigen vier Hauptklassen (Quarta bis Prima) ergänzte. Man stellte dafür einen neuen Lehrer ein, den Kandidaten der Theologie Johann Ferdinand Laue. 105Möglicherweise wurde Heinrich dieser Vorbereitungsklasse zugeteilt. Eine Erwähnung Zschokkes finden wir aber erst ein Jahr später als Schüler der Quarta. Er selber entsann sich, an der Klosterschule hauptsächlich Unterricht von Laue empfangen zu haben. 106Da Laue die Fächer Geografie und Geschichte auch in der Quarta unterrichtete, könnte er zwar auch in die Quarta eingetreten sein; der Besuch der Quinta ist bei seinen mangelhaften Kenntnissen aber wahrscheinlicher.
Wollte Heinrich von der Quinta aufsteigen, so musste er bestimmte Leistungen in Latein erbringen, die Rötgers so umschrieb: «[...] ein Schüler kan aus derselben nicht eher versezt werden, bis er sich einen ziemlichen Vorrath von Wörtern der lateinischen Sprache, die am häufigsten vorkommen, gesamlet, die regulairen Flexionen der Verben sich bis zur Fertigkeit geläufig gemacht, und leichte Sprachsätze auseinander wikkeln und konstruiren kan.» 107
Zschokke behauptete, er sei mangelnder Leistungen wegen aus der Schule geworfen worden. Nachdem er sich lange durchgemogelt habe, sei er bei einer öffentlichen Prüfung vor der gesamten Lehrerschaft aufgeflogen. «Ich hatte in Jahr und Tag nichts gelernt; und ward, wie billig, um der berühmten Schulanstalt kein Vorwurf zu werden, wegen Mangel an Geistesfähigkeit, aus ihr verwiesen.» 108
Es gelang Heinrich offenbar, den Lehrer, also Laue, hinters Licht zu führen: «Ich, der noch nicht französisch lesen konnte, lernte, mit kräftigem Gedächtniß, ganze Seiten französisch auswendig, die ich mir deutsch geschrieben hatte, und die Übersetzung dazu.» 109Nach dieser Selbsteinschätzung ist es merkwürdig, dass er binnen eines Jahrs von der Quinta in die Quarta versetzt wurde, es sei denn, er hätte es fertiggebracht, Laue auch in Latein so zu täuschen, dass seine Unwissenheit verborgen blieb.
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