Manchmal wachte er morgens auf und fragte sich, warum sich heute das Aufstehen eigentlich lohne. Solche Gefühle waren ihm normalerweise völlig fremd. Das war etwas, mit dem er nicht umgehen konnte. Sein eigener Vater hatte am Ende seines Lebens unter Altersdepressionen gelitten. Bernd Kellert wusste, was das für die Betroffenen und ihre ganze Umgebung bedeutete. Sich selbst hätte er aber immer als immun gegen diese Krankheit eingeschätzt. Auf einmal war er sich da nicht mehr so sicher.
Wie stark sein Leben eben auch von seiner Rolle als Vater geprägt gewesen war, hatte er bewusst gar nicht wahrgenommen. Nun, ohne die Kinder fehlte eine entscheidende Quelle des Antriebs. Seine Arbeit machte er nach wie vor gern. Und er war ein guter Polizist, das wusste er. Dass er die Welt letztlich nicht verbessern würde, das war ihm immer klar gewesen. Aber wenigstens ein bisschen sicherer und gerechter. Das reichte ihm. Immer noch.
Trotzdem: Sein Leben schrie nach Veränderung. Eines Morgens hatte die Idee ganz klar vor seinen Augen gestanden. Die vor ihm liegende Lebensphase brauchte noch einmal einen neuen Rahmen. Ein Umzug schien eine verlockende Idee, gerade weil sie so unvermutet kam. Beate war es recht gewesen. Vor allem der große alte Gemüse- und Obstgarten rund um das renovierungsbedürftige Gebäude, ein altes Knechtshaus, hatte sie gereizt. Da ihr Sohn Tobias in München studierte und kaum noch nach Hause kam, reichten ihnen die vier Zimmer. Jenny, die Tochter, stand damals kurz vor dem Abitur. Eine völlig neue Wohnumgebung passte zwar nicht in ihre Pläne, sie war aber noch für einige Monate mit aufs Land gezogen.
Inzwischen hatte sie ihr Studium aufgenommen – in Friedensberg – und war zu ihrem Freund in eine dortige Studi-WG gezogen. Kellert mochte diesen Mike nicht besonders. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und die Konsequenz nach sich zog, dass sich auch Jenny nicht mehr oft bei ihnen blicken ließ. Ihr Zimmer hier in Polzingen stand ihr jedenfalls weiterhin zur Verfügung. Aber sie war inzwischen von einer Mitbewohnerin zu einer Besucherin geworden.
„Jetzt könntet ihr euch doch eigentlich einen Hund anschaffen, Paps!“, hatte Jenny bei einem ihrer letzten Besuche vorgeschlagen. „Platz ist genug, er würde euch ein bisschen auf Trab halten und“ – sie grinste schnippisch – „ihr müsstet Tobias und mir nicht mehr so nachtrauern.“
„Von wegen trauern“, hatte Bernd Kellert grimmassierend geantwortet, aber im Wissen, dass er nicht ganz aufrichtig war: „Froh sind wir, froh! Endlich Zeit für uns selbst! Da werden wir einen Teufel tun und uns einen Hund anschaffen. Dann bist du ja wieder gebunden. Dafür sind wir ja auch viel zu viel unterwegs. Ein Hund braucht seine festen Bezugspersonen, und die müssen auch für ihn da sein. Nee, nichts da! Abgesehen davon, dass ich Hunde ja auch nicht wirklich mag. Sie sind mir irgendwie zu anhänglich. Zu treu. Zu formbar.“
In einem hatte Jenny jedenfalls Recht: Für ihre Eltern bedeutete diese Zeit einen einschneidenden Prozess der Umgewöhnung. Zwanzig Jahre lang waren sie in wesentlichen Teilen ihres Lebens Vater und Mutter gewesen. Das blieben sie nun auch weiterhin, aber es bestimmte den Alltag fast gar nicht mehr. Das erlaubte tatsächlich neue Freiheiten, aber die mussten erst einmal erkannt und positiv gefüllt werden.
Für viele Bekannte der Kellerts war diese Phase des Umbruchs eine schwierige Zeit. Einige Kollegen hatten sich nach langjähriger Ehe scheiden lassen. Ohne die Kinder blieb einfach zu wenig Gemeinsames. Auch zwei Freundespaaren der Kellerts war es in den letzten beiden Jahren so ergangen. Und die Freunde forderten immer Parteinahme ein. Sie, ihre Freunde, sollten sich für das jeweilige Gegenüber, gegen die ehemalige Partnerin oder den ehemaligen Partner entscheiden. Aber wie sollte man das machen, wenn man beide mochte? Sie hatten folgende, wenig originelle Lösung gefunden: Beate blieb in Kontakt mit den Frauen, Bernd mit den Männern. Aber das war letztlich unbefriedigend. Die Beziehungen bröckelten mehr und mehr ab. Denn auch für die meisten der Betroffenen waren diese Neuaufbrüche nicht einfach.
Neuaufbrüche gab es auch bei ihnen, nicht nur im Blick auf den Umzug. „Und wir, Bernd?“, hatte Beate eines Abends gefragt, als sie sich mit wenig Anteilnahme eine blödsinnige Fernsehshow anschauten. „Was ist mit uns?“ Bernd Kellert hasste solche Gespräche. Wann immer möglich, versuchte er sie zu vermeiden. Er musste schon in seinem Beruf ständig im Leben anderer Menschen herumwühlen, Tiefenschichten freilegen, Verborgenes und Abgründiges an die Oberfläche bringen – da wollte er wenigstens zu Hause seine Ruhe haben. Psychologische Selbsterforschung? Komplizierte Partnergespräche? Wenig ertragreicher, immer wieder gleicher Austausch über das Leben der Kinder? – Bitte nicht!
„Beate das passt doch so“, hatte er gesagt und es auch so gemeint. „Ruhige Wasser, ich weiß. Aber brauchst du“ – er suchte nach einem Bild – „den ständigen Reiz der Sturmfluten? Ich nicht, dazu bin ich zu … zu müde. Ich bin einfach froh, in einem sicheren Hafen zu sein. Der die Stürme abhält. Lass uns den Hafen pflegen bitte!“ Seine Frau hatte ihn lange angeschaut. Dann genickt.
Ein bisschen mehr Spiel der Gezeiten, ein bisschen mehr Dynamik von Ebbe und Flut wäre Beate Kellert wohl nicht ganz unrecht gewesen. Aber sie verstand nur zu gut, dass für ihren Mann im Moment andere Prioritäten galten. Und sie war froh, heilfroh, dass er sich seine Selbstbestätigung nicht – wie so viele andere Männer in ihrem Bekanntenkreis – in anderen Beziehungen suchte. Meistens mit jüngeren Frauen. Als könnte man dadurch das Rad der Zeit zurückdrehen. So war Bernd Kellert nicht. Da war sie sich sicher. Und diese Sicherheit tat ihr gut.
Sie selbst hatte anders auf die Veränderungen des Lebens reagiert. Beate Kellert hatte ihren sicheren Halbtagsjob als Steuerfachkraft gekündigt und mit zwei Freundinnen in Friedensberg ein eigenes kleines Steuerberatungsbüro eröffnet. Dort arbeitete sie oft lange, kam manchmal erst nach ihrem Mann nach Hause. Aber es war eine selbstbestimmte Arbeit, die ihr Freude machte. Bernd Kellert war froh, dass sie auf diese Weise den Übergang in die Phase des Familienlebens ohne Kinder so gut geschafft hatte. Er nahm gern in Kauf, dass er nun manchmal in ein leeres Haus zurückkam.
Das so leer denn auch nicht war. Barry, der mit den Jahren dick gewordene orange-weiße Kater, wartete schon auf ihn. Das Tier hatte den Umzug anfangs sichtlich gehasst. Erst mit der Zeit hatte er sich an das neue Zuhause und die Umgebung gewöhnt. Inzwischen wusste er vor allem den großen Garten und die angrenzenden Nachbargrundstücke zu schätzen. Einen gewissen Anteil an seiner Gewichtszunahme hatte sicherlich die zeitgleich sich ereignende deutliche Reduktion des Mäusebestandes im Umfeld. Früher hatte Kellert den Kater eher ertragen als gemocht. Es war das Tier seiner Tochter. Da er seine Tochter liebte, akzeptierte er notgedrungen auch den Kater, von ihm zärtlich-verächtlich ‚Vieh‘ genannt.
Das Verhältnis Mann–Kater hatte sich jedoch schon vor zwei Jahren geändert, als Barry einmal für fünf Tage verschwunden war. Da hatte sich Kellert – gegen seinen Willen – eingestehen müssen, wie sehr er ‚das Vieh‘ vermisst hatte. Es war eben doch Teil der Familie. Und schon wegen Barry war der Gedanke an einen Hund völlig unrealistisch. Ein Hund und diese Katze unter einem Dach – das würde niemals gutgehen.
Dass ausgerechnet Jenny diesen Vorschlag gemacht hatte, der – streng genommen – der Kater gehörte, steigerte die Skurrilität dieser Idee nur noch ein weiteres Mal. „Wenn du Barry mit in deine Wohnung nach Friedensberg nimmst, dann können wir vielleicht über einen Hund nachdenken“, hatte Kellert gesagt. „Wie soll denn das gehen, Paps? In einer Studenten-WG!“, hatte Jenny zurückgegeben, der das derzeitige Arrangement ganz gut zu gefallen schien: Barry blieb ihre Katze, aber sie hatte keinerlei praktische Verantwortung. ‚Dir wäre es auch nicht Recht, Bernd!‘, ging ihrem Vater durch den Kopf. ‚Es würde dir schon fehlen, das Vieh!‘
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