Das musste Lüft auch 1845 erfahren, als die deutschkatholische Bewegung in Darmstadt Fuß zu fassen suchte und dabei von der evangelischen Hof- und Stadtgeistlichkeit unterstützt wurde. Lüft bemühte sich, die Katholisch-Theologische Fakultät Gießen für die geistige Auseinandersetzung mit dem Deutschkatholizismus zu gewinnen und trat selbst in mehreren Predigten gegen den Deutschkatholizismus auf: Indem sie der Gemeinde die Entscheidungsvollmacht über die Glaubenslehre anvertrauten und die Autorität der Heiligen Schrift der Vernunft, gar dem Zeitbewußtsein unterwarfen, machten die Deutschkatholiken die jedesmalige Meinungsansicht der Menschen zu ihrem obersten Prinzip: Es kann jeder zu jeder Zeit glauben, was er will . An die Stelle der Göttlichkeit der Religion tritt die Mode der Zeit. Man hat das Christentum, die Offenbarung, die Religion in ihrem Fundamente angegriffen, abgeleugnet und vernichtet und die Menschen so des Leitsterns beraubt, der allein sicher durchs Leben zu führen vermag. Denn die göttliche Offenbarung muss dem Menschen zu Hilfe kommen und den Funken entzünden, die Gottesbeziehung ermöglichen, die die Grundlage allen menschlichen Lebens ist. Die Neuerer aber haben die schwankende, unsichere Meinung der Zeit über die Religion gestellt und den Menschen ermächtigt, die Religion sich und der Zeit anzupassen . 73Die Offenbarungsfeindlichkeit der Deutschkatholiken liegt für Lüft auf der Hand, umso betroffener macht ihn die Unterstützung, die ihnen von protestantischer Seite zuteilwurde und die die Feier eines öffentlichen Gottesdienstes ermöglichte. Lüft sieht darin eine Kränkung der Katholiken, eine öffentliche Verletzung der Gewissensfreiheit; er mahnt seine Gemeinde, dem Glauben und der Kirche treu zu bleiben und in allen Angriffen auf Gott zu vertrauen 74.
Die politisch-religiöse Bewegung des Deutschkatholizismus blieb eine Randerscheinung, doch ließen die revolutionären Unruhen im Großherzogtum Hessen Lüft 1848 Ausschau nach dem Amt des Frankfurter Stadtpfarrers halten. Lüft teilte Linde mit, dass mir das Leben in Darmstadt und damit auch meine Stelle immer mehr zu verleiden anfängt, was ich freilich vorläufig nur Ihnen sagen darf, obschon es mir schwer fällt, das Gesicht des Überdrusses zu verbergen 75. Wie viele Glieder des Establishments erschütterten ihn die revolutionären Vorgänge.
In seiner Neujahrspredigt 1851 blickte Lüft auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und verurteilte Krieg und Revolution, falsche Aufklärung und Weltweisheit 76. Die Wendung zum Besseren schien ihm allerdings gewiss. Wir haben mit Freuden gesehen, wie ein mächtiger Zug der Gnade durch die Herzen geht, und die Religion wieder angefangen hat, innigere und zahlreichere Verehrer zu zählen . Auch das Nachlassen der konfessionellen Reibungen und Kämpfe erfüllte ihn mit Zuversicht 77.
Warf man Lüft im Mainzer Kreis auch vor, er sei allzusehr verdarmstädtert, so suchte Bischof Ketteler doch seine Verdienste zu würdigen. Da er Lüft bei der nächsten Vakanz eines Domkanonikats unmöglich übergehen, dieser aber in seiner einflussreichen Stelle als Pfarrer und Oberschulrat in Darmstadt „multo utilior“ wirken konnte, bat Ketteler den Papst um die Erlaubnis, Lüft zum Ehrendomherrn erheben zu dürfen. Der Zustimmung des Großherzogs war er sich von vornherein gewiss. Pius IX. erhob keine Einwände und Lüft wurde 1852 Mainzer Ehrendomherr. Als Darmstädter Pfarrer hatte Lüft zeitweilig Ketteler in der Ersten Kammer der Landstände zu vertreten. 1862 bat er, aus gesundheitlichen Gründen von dieser Aufgabe entbunden zu werden. In dieser Zeit nahm Lüft auch nicht mehr an den Sitzungen der Darmstädter Oberstudiendirektion teil; Klagen über die mangelnde Vertretung kirchlicher Interessen in diesem Gremium waren die Folge.
Politisch dachte Lüft großdeutsch. 1858 kam es deshalb zum Eklat; denn Lüft schlug die Bitte des französischen Gesandten in Darmstadt, zum Napoleonstag 1858 eine Messe zu feiern, rundweg ab; aus seinen pro-österreichischen Gefühlen machte er keinen Hehl. Die hessen-darmstädtische Regierung gab sich indigniert.
In den Jahren 1862/63 stand Lüft in Briefwechsel mit dem resignierten bayerischen König Ludwig I. (1786–1868); dieser hatte enge Beziehungen zu Darmstadt; denn seine Tochter Mathilde war die Gattin Großherzog Ludwigs III. Lüft nahm in seinen Schreiben Stellung zu Heiratsplänen des Königs. Die Auserwählte war die um Jahrzehnte jüngere Darmstädter Hofdame Carlotta von Breidbach-Bürresheim (1838–1920). Lüft betätigte sich als Postillion d’amour, war dann aber vor allem damit beschäftigt, den König von seinen Plänen abzubringen. Als die Freiin sich vermählte, spendete er dem „Unterlegenen“ Trost und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass bei Euer Majestät bald die Periode eintritt, wo die freundliche Erinnerung ohne schmerzliche Beimischung ist 78.
Am Todesleiden Lüfts nahm auch Bischof Ketteler Anteil; schon im Januar 1869 fragte man sich, ob Lüft den Winter überlebt 79. Lüft erholte sich nochmals, starb aber am 23. April 1870. In einem Nachruf der „Darmstädter Zeitung“ hieß es, Lüft erfreute sich durch die Reinheit, Geradheit und Unwandelbarkeit seines Charakters sowie durch seine echt christliche Toleranz der Achtung und Liebe aller, die mit ihm in Berührung kamen, in reichstem Maße 80. Kettelers Urteil war zwiespältiger. Unsern alten Lüft werden wir noch oft entbehren, schrieb er an Johann Baptist Heinrich vom Vatikanischen Konzil, wenn auch für die Seelsorge unendlich viel mehr und Besseres geschehen kann wie bisher 81. Lüfts „Rolle“ auf der diplomatischen Bühne spiegelte sich auch in der Verleihung des Ritterkreuzes des Großherzoglich Hessischen Ludwigsordens I. Klasse und des Königlich Bayerischen Verdienstordens I. Klasse.
In Johann Baptist Lüft begegnet uns ein Theologe von Rang. Ihm verdankt die Liturgik ihre wissenschaftliche Grundlegung. Doch vermochte die Universität für ihn nicht zur eigentlichen Heimat zu werden. Der Professor für Pastoral strebte nach der pastoralen Praxis. 35 Jahre lang hat er sich ihr in Darmstadt gewidmet. Zeit seines Darmstädter Wirkens ist es ihm gelungen, trotz des forschen Vorgehens eines Bischofs wie Ketteler für ausgeglichene Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu sorgen. Dabei hat er den katholischen Standpunkt nicht verschwiegen, viel weniger aufgegeben.
Lebensdaten
30.03.1801 |
geb. in Hechtsheim bei Mainz als Sohn des Tagelöhners Jakob Lüft und seiner Frau Klara, geb. Strohm |
07.04.1824 |
Priesterweihe in Speyer |
1829 |
Professor für Moraltheologie am Mainzer Priesterseminar |
30.11.1830 |
Professor für Moral- und Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät und Pfarrer in Gießen |
1835 |
Pfarrer, Dekan und Oberschulrat in Darmstadt |
1852 |
Ehrendomkapitular |
23.04.1870 |
gest. in Darmstadt |
Quellen
Archivio Segreto Vaticano, Rom (ASV):
ANM 80 pos. 87
Bundesarchiv Außenstelle, Frankfurt a.M. (BAF):
FN 10/32
Bayerische Staatsbibliothek, München (BayStB):
Ludwig I., Archiv
Dom- und Diözesanarchiv, Mainz (DDAMz):
Generalakten 1/I; Pfarrakten Dekanat Gießen; Pfarrakten Gießen 2; Generalakten 1/IIk; Generalakten 1/III; Generalakten 4; Domkapitel C. 1.8a
Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt a.M. (FDHF):
Hs. 24691
Pfarrarchiv St. Bonifatius, Gießen (PfAGi):
[J. B. Rady], Chronica Parochiae Catholicae Giessen 1880
Schriften
Die Bedürfnisse der Kanzelberedsamkeit in ihrem Verhältnisse zu den Anforderungen der Zeit und der Kirche. In: Kirchenzeitung für das katholische Deutschland 3 (1832) S. 137–144, 153–158, 209–215, 225–232.
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