Neben den vielschichtigen Konnotationen der Begriffe „katholisch“ bzw. „Katholizität“ in den Konzilstexten lassen sich weitere, mehr inhaltliche Auffälligkeiten attestieren, die im Folgenden dargelegt werden sollen.
3. Katholizität als Schlüssel zur Verhältnisbestimmung von kirchlicher Einheit und Vielfalt
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) legt mit seiner Konstitution „Lumen Gentium“ erstmals in der Geschichte der Kirche eine lehramtliche Ekklesiologie vor, in der das kirchliche Selbstverständnis der Kirche der Väter mit dem der Apologetik nachtridentinischer und neuscholastischer Theologie in eine Synthese gebracht wird und in der die mit der Gregorianischen Reform begonnenen juridisch-hierarchologischen Engführungen in der Kirche zu überwinden versucht werden. 357Bereits das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) hatte beabsichtigt, Kerngedanken einer katholischen Ekklesiologie zu bestimmen. Weil aber das Konzil wegen des Deutsch-Französischen Krieges frühzeitig abgebrochen werden musste, war es nicht mehr zur Besprechung und Verabschiedung einer zweiten, als Ergänzung gedachten Konstitution über die Kirche (vgl. NR 387–394) gekommen 358hinterlassen wurde ein „ekklesiologisches Fragment“ 359. Einzige Ausnahme bilden die Bestimmungen über den Primat des Papstes in der Konstitution „Pastor aeternus“ (vgl. DH 3050–3075), in der die juridische Ekklesiologie der nachtridentinischen Kontroverstheologie kulminiert 360. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt das Fragment des Ersten Vatikanums auf und führt es fort (vgl. LG 1). In Ausdrücklichkeit widmet es sich dem Thema „Kirche“ und bestimmt sie „von ihrer Rolle in der Gesch[.][ichte] des universalen Heilswillens Gottes her, was formal in einer […] dialogischen Relationalität nach außen und nach innen, konkret in den Selbstbezeichnungen ‚Communio’, ‚Volk Gottes’ u[.][nd] ‚Sakrament des Heils der Welt’ […] zum Ausdruck kommt.“ 361
Die Begriffsanalyse hat erkennen lassen, dass der Begriff „katholisch“ bzw. „Katholizität“ neben seiner konfessionellen Verwendung nicht nur in seiner ursprünglich qualitativen Bedeutung wiederentdeckt und komplementär zu seiner quantitativen Bedeutung benutzt wird, sondern dass er in diesem notwendig reziproken Verständnis viele jener Kernaussagen berührt und inhaltlich betrifft, die das Zweite Vatikanische Konzil zum Teil neu über die Kirche tätigt. Die Konzilsväter verwenden den Begriff „katholisch“ bzw. „Katholizität“ im qualitativen bzw. quantitativen Sinne sogar häufig und ausdrücklich in solchen Kontexten, wo es um Bestimmungen über die Kirche geht, die ihr Wesen bzw. Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, wie es auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil neu gefasst wurde. In seiner qualitativen bzw. quantitativen Dimension vermag der Begriff „katholisch“ bzw. „Katholizität“ das pointiert zu formulieren bzw. zu integrieren, was die Konzilsväter über die Kirche aussagen wollen, wenn sie die Kirche als „Volk Gottes“, als „Sakrament“ und als „Communio“ qualifizieren.
Im Kontext der sakramentalen Wesensbeschreibung der (römisch-)katholischen Kirche (Kirche als „Mysterium“ bzw. als „universales Heilssakrament“, vgl. LG 48, UR 3) etwa wird deutlich, dass deren qualitative Katholizität stets mit ausgesagt ist. Kirche ist, nach Lehre der Konzilsväter, „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Da Christus als „Mittler und Weg zum Heil […] in seinem Leib, der Kirche, uns gegenwärtig wird“ (LG 14), ist Kirche nicht nur bildhaft sein Leib, sondern auch wirklich, d.h. sakramental (sichtbar) die Gemeinschaft mit ihm und der Christen untereinander. Indem uns Christus in der Feier der Eucharistie Anteil an seinem Leib gibt, vereint er uns in diesem seinem Leib, um uns auf sakramentale Weise eins zu machen im mystischen Leib der Kirche (vgl. LG 3;7;11;17;26; UR 2;15; CD 30). Diese Kirche aber, „in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (LG 8,2). Wir hatten gezeigt, dass hier – mit Blick auf die katholischen Ostkirchen – bewusst auf das „römisch“ in der Konfessionsbezeichnung verzichtet wird, dass das „katholisch“ zugleich aber hinweist auf die der Kirche zukommenden Katholizität. (Römisch-)katholische Kirche ist deshalb katholisch, so der von den Konzilsvätern hier aufgerissene Kontext, weil in ihr Christus mit seiner ganzen Fülle (qualitative Katholizität) und Weite (quantitative Katholizität) auf sakramentale Weise gegenwärtig ist (vgl. LG 14. 26; UR 3), und weil in ihr die Kirche Jesu Christi „subsistiert“, d.h. konkret verwirklicht ist. Die der (römisch-)katholischen Kirche wesentlich zukommende Katholizität ist also christologisch bestimmt; das Wesen ihrer Katholizität gründet in Christus selbst.
Die der (römisch-)katholischen Kirche zukommende Katholizität bleibt dabei aber – dieses Denken ermöglicht der bewusst gewählte „weitere“ Begriff des „subsistit in“ – nicht alleine der (römisch-)katholischen Kirche vorbehalten; vielmehr eröffnet das in LG 8 grundgelegte, erneuerte Selbstverständnis der (römisch-)katholischen Kirche die Möglichkeit, „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit“ auch in nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften „zu finden […], die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen“ (LG 8). Diese Einheit hat „Christus seiner Kirche von Anfang an geschenkt […][und sie ist] unverlierbar in der katholischen Kirche“ (UR 4,3) gegeben, dies aber in (noch) nicht vollendeter Weise, zumindest solange nicht, wie die christliche Kirche faktisch in mehrere Denominationen gespalten ist. Diese historische Wirklichkeit hindert letztlich die (römisch-)katholische Kirche daran, alle Aspekte ihrer sakramental vermittelten Katholizität in ihrem Leben voll und ganz zu verwirklichen. Daher bleibt es Aufgabe der (römisch-)katholischen Kirche, „wirksam und stetig danach […][zu streben], die ganze Menschheit mit allen ihren Gütern unter dem Haupt Christus zusammenzufassen in der Einheit seines Geistes […], so dass das Ganze und die einzelnen Teile aus allen vermehrt werden, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken“ (LG 13,2–3). Katholizität ist also nicht nur Gabe, sondern auch Aufgabe der pilgernden Kirche, welche es sowohl inner- wie binnenkirchlich, aber auch mit Blick auf andere Religionen und die gesamte Welt stets neu zu suchen und zu verwirklichen gilt.
Wie Kirche also, wenn sie Sakrament ist, notwendig sichtbar ist, so muss sich auch ihre Katholizität notwendig äußern. Damit ist die zweite Leitkategorie des Konzils berührt: Kirche als „Volk Gottes“. Kirche ist nämlich nicht eine rein geistige Größe, eine pure Idee, sondern – da Sakrament – „sichtbare Versammlung und […] geistliche Gemeinschaft, […] eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8,1), eine kontingente, reale Größe. Das Wesen des Sakramentseins liegt ja gerade darin, „dass im Sichtbaren das Unsichtbare berührt wird, dass das berührbare Sichtbare den Zugang zu Gott selbst öffnet.“ 362Kirche ist notwendig sichtbar: Sie „ist eine Gemeinschaft von Menschen, die durch das Wirken des Heiligen Geistes das Volk Gottes bilden, das gleichzeitig der Leib Christi ist.“ 363Um in die Menschheitsgeschichte einzutreten, so das alttestamentliche Verständnis vom Volk Gottes, „hat Gott ein bestimmtes Volk erwählt – das [eine] Volk Israel –, damit es Sein Volk sei. Die Absicht dieser besonderen Wahl ist, durch die Wenigen zu den Vielen und durch die Vielen zu allen zu gelangen. Mit anderen Worten: Die Absicht dieser besonderen Wahl ist die Universalität. Durch dieses Volk tritt Gott wirklich auf konkrete Weise in die Geschichte ein“ 364und begründet die der Kirche aufgegebene Verwirklichung ihrer Katholizität.
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